Kolumne zum Gedenktag an Ausschwitz-Opfer in Stettin: Zug des Todes
An einer verwitterten Mauer neben einer Hauptstraße in Szczecin, hängt ein kleines messingfarbenes Schild. Es weist darauf hin, dass hier einst eine Synagoge stand, die in der Pogromnacht von 1938 zerstört wurde. Ein weiterer Satz klärt darüber auf, dass 1940 alle pommerschen Juden in den Tod deportiert wurden. Touristen haben das Schild gespendet, denn zwei frühere Schilder wurden zerstört. An dieser unscheinbaren Ecke wollte die Stadt einen Parkplatz bauen. Ob sie das jetzt noch plant, ist fraglich. Denn am Freitag, den 13. Februar 2015, trafen sich zum ersten Mal Deutsche, Polen und Juden um der Deportation zu gedenken. 75 Jahre hat es gedauert bis diese verwundete Region fähig war, sich auf ihre Juden zu besinnen.
Andrzej Kotula, Deutsch-polnisches Kulturforum Odermündung, und Robert Kreibig, Alte Synagoge Stavenhagen, hatten die Idee, diesen Tag gemeinsam zu begehen. Ein schwieriges Vorhaben in einer Stadt, die einst Stettin hieß und deutsch war. Die Juden sind tot, die Deutschen umgesiedelt und die Polen, die jetzt in Szczecin leben, kamen aus jenem Teil Polens, der heute zur Ukraine gehört. Wessen Juden sind es also? Wer fühlt sich für die Erinnerung zuständig? Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb es so lange gedauert hat, sich zu erinnern.
1940 war die „Endlösung“ noch nicht beschlossen. Dennoch ordnete der übereifrige Antisemit und Gauleiter Schwede-Coburg an, alle Juden zusammenzutreiben und ins polnische Protektorat zu schicken. So kamen Juden aus Greifswald, Anklam, Wolgast, Usedom, Pasewalk und anderen Orten nach Stettin, wo bereits alle ansässigen Juden aus ihren Wohnungen verjagt worden waren. Zunächst sollten sie in ein leerstehendes Kaufhaus, als das nicht ging, verbrachte man sie nach Lublin und später nach Auschwitz.
Szczecin entdeckt seine Geschichte neu
Die ersten starben schon in Stettin, denn es war unter minus 20 Grad. Manche schafften es noch einige Tage oder Monate. Nur wenige überlebten. Diese Deportation blieb nicht unbemerkt, Schwedische und Schweizer Zeitungen berichteten davon. Sie konnten das Unvorstellbare nur ahnen, doch die Berichte lösten Unruhe aus. Damals reagierte Hermann Göring noch empfindlich. Die Aufmerksamkeit der Medien passte nicht in die Propagandalinie. Abgesehen davon, dass er nicht informiert worden war, ärgerte ihn der Schnellschuss seines Gauleiters. Also kabelte er nach Stettin, und es gab Anrufe und einen Stopp-Befehl von ganz oben.
In der Zwischenzeit pferchten die Nazis die Juden und ihre Familien samt ihrer „arischen“ Verwandten zum Abtransport zusammen. Als der Stopp-Befehl Stettin erreichte, war der Zug bereits abgefahren. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mehr als 1000 Menschen verschwanden so aus dem Leben in Pommern.
Szczecin ist eine Stadt, die ihre Geschichte gerade neu entdeckt. Polen und Deutsche gedenken gemeinsam ihrer Nachbarn, die sie damals nicht zu schützen vermochten. Die deutschen Nazis, Kollaborateure und Profiteure wollten testen, ob sie so weitermachen können. Wir kennen das Ergebnis. Fünf Jahre später bombardierten die Alliierten Dresden, und bis heute ist es vielen Dresdnern nicht beizubringen, dass das eine mit dem anderen zu tun hatte. Deshalb ist der 13. Februar von Szczecin der eigentliche Gedenktag. Von hieraus war der Zug abgefahren.