Kommentar zu Arbeitszeiten: Vom Sinn des Acht-Stunden-Tags

Beschäftigte können jederzeit an jedem Ort berufliche E-Mails beantworten oder an einem Projekt weiterarbeiten, im Betrieb, im Zug oder zu Hause. Das Internet und neue Techniken verändern die Art, in der wir arbeiten. Die Grenzen zwischen Freizeit und Beruf verschwimmen zunehmend. Die Frage, wann jemand arbeiten will und muss, gewinnt an Bedeutung. Deswegen überlegt die Bundesregierung zurzeit, wie sie die Digitalisierung der Arbeit gestalten soll. Die Arbeitgeber haben sich bereits festgelegt und empfehlen, mit einer altbekannten Strategie auf die technischen Neuerungen zu reagieren: Sie fordern möglichst wenig Regulierung und möglichst viel Flexibilität.

Konkret verlangt die Arbeitgebervereinigung BDA in einem Positionspapier, den seit 1918 gesetzlich festgeschriebenen Acht-Stunden-Tag abzuschaffen, damit Mitarbeiter problemlos auch elf oder zwölf Stunden arbeiten können. Die gesetzliche Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen finden sie zu lang. Vor die Sonntagsarbeit sollen keine „übermäßigen Hürden gestellt werden“. Arbeit auf Abruf soll „spontaner“ möglich sein: Den Beschäftigten vier Tage im Voraus zu sagen, wann sie einspringen müssen, erscheint der BDA zu lang.

Insbesondere der altehrwürdige Acht-Stunden-Tag passe nicht mehr ins digitale Zeitalter, argumentieren die Arbeitgeber und begründen das so: Heutzutage müssen deutsche Mitarbeiter schon mal ein Projekt frühmorgens mit asiatischen Partnern abstimmen und am gleichen Abend mit US-Partnern. Damit das klappt, müssten die Leute sehr lange arbeiten. Das ist ein schwaches Argument. Schon heute sind Krankenhäuser und Fabriken 24 Stunden in Betrieb, ohne dass Ärzte, Pflegerinnen und Facharbeiter nonstop 24 Stunden arbeiten. Genauso können globale Abstimmungen mit Mitarbeitern bewältigt werden, die versetzte Arbeitszeiten haben. Im Übrigen sind schon heute große Konzerne erfolgreich weltweit tätig. Die BDA kann ja mal nachfragen, wie diese Unternehmen internationale Abstimmungen organisieren.

Im Kern geht es den Arbeitgebern darum, noch einfacher und schneller auf Arbeitskräfte zugreifen zu können, und zwar genau dann, wenn sie sie brauchen. So lassen sich mit einer dünnen Personaldecke Aufträge abarbeiten. Das spart Kosten und erhöht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Firmen. Allerdings hat die deutsche Wirtschaft kein Problem mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Im Gegenteil, sie profitiert noch immer von der jahrelangen schwachen Lohnentwicklung und braucht keine weitere finanzielle Entlastung zulasten ihrer Belegschaft.

Die Arbeitszeiten in Deutschland müssen nicht noch stärker dereguliert werden, sie sind bereits sehr flexibel. Der Acht-Stunden-Tag ist keine starre Vorschrift. Unternehmen können ihre Beschäftigten problemlos zehn Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche arbeiten lassen, wenn es innerhalb von sechs Monaten einen Freizeitausgleich gibt. Flexible Arbeitszeiten existieren nicht nur auf dem Gesetzespapier, sie werden auch weidlich genutzt: Für mehr als 40 Prozent der Arbeitnehmer gehören Samstags- und Abendarbeit zum Berufsalltag, jeder Vierte ist immer wieder an Sonn- und Feiertagen im Einsatz. Tendenz steigend. Und natürlich gibt es auch Menschen, die freiwillig oft länger als zehn Stunden am Tag arbeiten und unbezahlte Überstunden leisten, weil sie ihren Job gut machen wollen – und dafür vom Chef Lob statt Tadel für die Selbstausbeutung ernten.

Die Digitalisierung biete auch Beschäftigten die Chance, Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren, werben Arbeitgeber. Tatsächlich ist es praktisch, falls man mal zu Hause arbeiten kann, wenn etwa das Kind krank ist. Und wenn Computer-Programme und Maschinen Aufgaben übernehmen, die bisher Menschen erledigt haben, sind sogar kürzere Arbeitszeiten möglich, als Alternative zu Entlassungen. Eine weitere Deregulierung ist dafür nicht nötig.

Das Problem ist, dass schon heute viele Beschäftigte mehr oder weniger freiwillig nach Feierabend oder am Wochenende ihrem Unternehmen zur Verfügung stehen. Solche überlangen und hyperflexiblen Arbeitszeiten können krank machen und lassen das Privatleben verarmen. Die freie Zeit, die man mit der ganzen Familie, mit Freunden, im Sportverein oder in politischen Initiativen verbringen kann, schmilzt dahin.

Die Digitalisierung begünstigt diesen Trend, weil noch mehr Aufgaben jederzeit an jedem Ort erledigt werden können. Deswegen ist es wichtiger denn je, die Arbeitszeit zu begrenzen, um die Menschen vor Fremd- und Selbstausbeutung zu schützen. Diese Begrenzung durchzusetzen, ist schwierig. Vielleicht geht das nur mit dem altbekannten Instrument der Arbeitszeit-Erfassung, im Büro, im Zug und zu Hause. Dank moderner digitaler Technik müsste das auch ohne Stechkarte und Zettel möglich sein.