Kommentar zu Islamisten: Unsere Dschihadisten
Lena ist 19 und hat einen deutschen Vater und eine japanische Mutter. Aufgewachsen aber ist sie in den USA, weswegen sie fließend Englisch, Deutsch und Japanisch spricht. Eine polyglotte junge Frau, deren ethnische Herkunft äußerlich nicht ohne weiteres auszumachen ist. Das hielt kürzlich in der Berliner U-Bahn zwei Jugendliche aber nicht davon ab, sie im Befehlston in einer ihr nicht bekannten Sprache anzufahren. Als Lena zu erkennen gab, dass sie kein Wort verstehe, wechselten die jungen Männer ins Deutsche und befahlen herrisch, sie möge gefälligst ein Kopftuch tragen.
Scharia-Polizei auf Berlinische Art, eine Mischung aus fundamentalistischer Anmaßung und juvenilem Übermut. Auf jeden Fall aber ist die Szene ein Ausdruck dessen, dass islamistische Allmachtfantasien sich nicht nur auf bestialische Weise in Syrien und im Irak austoben, sondern längst auch in unserem großstädtischen Alltag angekommen sind. Das dschihadistische Gefühl ist nicht nur in türkisch-syrischen Grenzregionen unterwegs, sondern fährt per U-Bahn zum Prenzlauer Berg.
Die öffentliche Wahrnehmung tut sich aber noch schwer, die emotionalen Pfade nachzuvollziehen, auf denen eine Subkultur des Dschihadismus in den Rhythmen des Rap und über die Videos von Youtube längst auch in unserer Gesellschaft ihren Platz gefunden hat. Als habe es nie zuvor ideologische Anziehungskräfte gegeben, wird ängstlich bis ratlos in den Talkshows gefragt, was, um Himmels Willen, junge Männer, aber auch Frauen, in beachtlicher Zahl in die Arme der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) treibt oder, wie gerade im kanadischen Ottawa, einen gezielten Angriff auf die staatlichen Institutionen der westlichen Welt unternehmen lässt. Das Verstörende an diesen Gewaltexzessen ist, dass sie leicht entflammbar zu sein scheinen und ohne erkennbares Motiv mal hier und mal da ausbrechen können.
Angst als Währung
Dabei dürften uns diese Phänomene bekannter sein als wir es wahrhaben wollen. Angesichts der in den frühen 90er-Jahren durchbrechenden rechtsradikalen Gewalt erinnerte die Berliner Publizistin Katharina Rutschky an den Begriff des jugendlichen Irreseins, eine Art emotionaler Ausnahmezustand, der weder durch eine Handvoll Sozialstunden zu therapieren ist noch dadurch gebannt werden kann, indem man dessen Hervorbringungen als das absolut Böse bezeichnet. Gegen solche aggressive Unberechenbarkeit sind die Möglichkeiten verschärfter Strafgesetze und die Erfolgsaussichten von Androhungen sozialer Sanktionen eher begrenzt. Die weltweite Erfolgsgeschichte des Islamismus besteht ja gerade auch in dem maximalen Schrecken, den er erzeugt und wie eine kulturelle Signatur vor sich herträgt. Angst als Währung, von der man nicht genug kriegen kann.
In bemerkenswerter Klarheit hat unlängst der Frankfurter Historiker und Extremismusforscher Gerd Koenen die enorme Attraktivität der Terrormiliz IS beschrieben. Für Koenen ist der IS eine Armee neuen Typs. Die jungen Männer, aber auch Frauen, die zu Tausenden aus aller Welt in dieses Kalifat strömen, begeben sich in fest organisierte und zugleich tief archaische und hoch moderne Strukturen. „Ihre existenzielle Unbedingtheit lässt sich offenbar recht mühelos in eine Bereitschaft zur Vernichtung durch Selbstvernichtung umwandeln.“ Aus der Verknüpfung mit religiöser Praxis, so Koenen, entstehe eine Trance des Kampfes als inneres Erlebnis, das auf die Entwurzelten der globalisierten Welt offenbar eine enorme Anziehungskraft ausübe. Die Gemeinschaft der Waffenträger als soziales Versprechen.
Bei aller Bedrohung auch unseres zivilen Alltags darf aber nicht übersehen werden, dass sich der islamistische Terror vor allem auch gegen die in ihre jeweiligen Gesellschaften integrierten Muslime richtet. Die islamische Welt befindet sich in Aufruhr, und der räuberische Feldzug des IS richtet sich zu allererst gegen die Funktionstüchtigkeit jener staatlichen Strukturen, in denen Muslime leben.
Aber selbst wenn die schwarzen Fahnen nicht mehr wehen, wird die Wirkung des sozialen Giftes, das der IS verströmt, nicht verflogen sein. Der Varianten des weltweit praktizierten islamistischen Terrors haben ein Stigma des Verdachts verbreitet, das den wechselseitigen Integrationsbemühungen in den multiethnischen Gesellschaften eine schwere Last aufbürdet. Dabei sollte es doch gar nicht so schwer sein, gegen das Machtbegehren panislamischer Bewegungen die Vorzüge offener Demokratien herauszustreichen, in denen die Jungen ihre Chance bekommen und in denen Herkunft und Religion nicht über die gesellschaftliche Stellung entscheiden.