Kommentar zum Marsch für das Leben in Berlin: Der Rechtsruck bedroht die Emanzipation

Berlin ist die Hauptstadt der Demos. Ich wohne an einer der beliebten Routen für öffentliche Bekundungen aller Art. So kam es, dass am Sonnabend etwa 6000 Lebensschützer an meinen Fenstern vorbeizogen. Sie trugen ernste Gesichter, seltsame Plakate und wie jedes Jahr weiße Kreuze. 

Ein Marsch gegen den großen Fortschritt der Moderne

Das Wort Holocaust im Zusammenhang mit Abtreibungen wurde diesmal vermieden, es gab wohl zu viel Kritik in der Vergangenheit. Dafür brachten die Verfechter „echter“ Familienwerte und des „wahren“ Frauenglücks (nämlich das des bedingungslosen Kinderkriegens), diesmal andere Nazibegriffe auf die Straße. So war die Rede von Euthanasie, Selektion und lebensunwertem Leben. Dazu Fotos von ausschließlich blonden Kindern. Das Ganze nannte sich „Marsch für das Leben“ – eine erstaunliche Analogie zum „Marsch des Lebens“, der jedes Jahr in Auschwitz an die von den Nazis Ermordeten erinnert.

Mit an vorderster Front Frau von Storch, AfD, etliche bekannte Rechtsextreme und explizit homofeindliche Gruppen. Dabei waren auch radikale Abtreibungsgegner und fundamentalistische Christen. Ein Marsch gegen den großen Fortschritt der Moderne: die Emanzipation der Frau. Sie ist der unabdingbare Grundstein für Demokratie und die generelle Emanzipation aller Menschen in allen gesellschaftlichen Belangen.

Damen mit ergrautem Haar, Männer mit Zwirbelbart und wenig junge Leute

Ich wollte eine Freundin zum Bahnhof bringen und konnte so die Demonstranten von Nahem sehen. Der Schweigemarsch hatte etwas Grusliges. Eine Front gegen das, was sich an Fortschritt, an Offenheit, an Liberalität, ja auch an gelungener Integration in Deutschland entwickelt hat. Wem es bisher noch nicht klar war, konnte es hier sehen. 

Mit dem Rechtsruck steht weit mehr auf dem Spiel als die Frage ob man Flüchtlinge gut findet oder nicht. Das wurde in den Gesichtern der Demonstranten deutlich. Ich sah Damen mit ergrautem Haar und dem starren Lächeln unbeirrbarer Nächstenliebe. Männer mit Zwirbelbart und dem ewigen Stirnrunzeln besorgter Bürger. Auch einige richtig Grimmige waren darunter, wie man sie sonst auf Nazidemos sieht. Dazwischen auch jüngere Leute, aber sehr wenig richtig junge.

Sie alle machten den Eindruck, als gehörten sie zu denen, die zwar Emanzipation begrenzen wollen, aber gleichzeitig Kopftücher bei Musliminnen ohne Wenn und Aber als Symbol der Unterdrückung der Frau verurteilen. 

In Sprechchören gegen das Patriarchat

Am Straßenrand standen kleine Gruppen von sehr jungen Leuten, die gegen den Aufmarsch protestierten. Einige hatten ihre Gesichter auffällig bemalt, andere trugen Verkleidungen wie rosa Tütüs oder regenbogenfarbene Hüte. Doch nicht bunt, sondern schwarz war ihre Grundfarbe. Nicht Schweigen, sondern schrilles Rufen und Pfeifen ihre Begleitmusik.

Sie schrien in Sprechchören gegen das Patriarchat an. Manche Sprüche waren originell, manche nicht. Einen Sprechchor aber fand ich besonders amüsant. Die jungen Leute schrien den Verfechtern vormoderner Geschlechter- und Familienbilder entgegen „Eure Kinder werden so sein wie wir“. Viele der sonst stoisch schweigenden Abtreibungsgegner schauten irritiert auf das punkige Grüppchen. Das hat gesessen.

Ein Witz schoss mir dabei durch den Kopf. Ein Priester, ein Imam und ein Rabbiner streiten darüber, wann das Leben beginnt. Der Priester sagt, mit der Empfängnis. Der Imam sagt, mit der Geburt. Und der Rabbiner sagt, wenn die Kinder endlich aus dem Haus sind. Na dann, hoffen wir das Beste!