Kommentar zur Flüchtlingskrise: Mit Zuwanderern ein neues Europa aufbauen
In den Ballungsgebieten Deutschlands fehlen schon jetzt 77.000 Wohnungen. Bis 2020 müssen jedes Jahr 400.000 Wohnungen gebaut werden, um genug bezahlbare Wohnungen anzubieten. Wie will man da noch Unterkünfte für die 800.000 Flüchtlinge bereitstellen, die allein dieses Jahr erwartet werden? Wer ein Durchschnittsgehalt bezieht und in Frankfurt oder München eine Wohnung sucht, der erfährt bald: Es gibt nichts Vernünftiges.
So kann man auch über Arbeits- und Kitaplätze, über Sozialhilfe und Krankenversorgung sprechen. All das langt nicht einmal für alle die, die jetzt schon in der Bundesrepublik leben. Wie soll es ausreichen für die Millionen, die noch kommen?
Meistens abgelehnt
Die erste Antwort, die wir auf diese Frage bekommen, lautet: Die meisten Asylanträge werden abgelehnt. Es werden nicht Millionen hierbleiben. Ein paar Hunderttausend Zuwanderer verkraften die 80 Millionen Deutsche. Das zeigt die Integration der Menschen, die in den 90er- Jahren als Flüchtlinge aus den Jugoslawienkriegen kamen.
Es wachsen freilich die Zweifel, ob wir es wirklich nur mit einem – vor allem dem syrischen Bürgerkrieg zu verdankenden – temporären Anstieg der Flüchtlingszahlen zu tun haben. Können wir wirklich damit rechnen, dass wenn der Syrienkonflikt – wie auch immer – beigelegt ist, die Nachfrage nach einem Asyl in Deutschland – wie nach dem Ende der Jugoslawienkriege – wieder signifikant zurückgeht? Und dass es dann wieder zwanzig Jahre dauert, bis es wieder einen Anstieg hoch in die Hunderttausende gibt?
Sicherer Hafen
Ich glaube nicht daran. Die Welt rückt enger zusammen. Weit entfernte Kriege lassen immer größere Teile der Bevölkerungen über Tausende Kilometer fliehen. Nicht weil es Schlepperbanden gibt, sondern die gibt es, weil es die Fluchtbewegungen gibt. Die Bundesrepublik, Europa werden sich darauf einstellen müssen, dass in immer kürzeren Abständen immer größere Mengen von Flüchtlingen versuchen, den sicheren Hafen Europa zu erreichen. Wir werden das nur können, wenn sie abrücken von der Sicherung des Status quo. Sie werden dazu übergehen müssen, das Bild eines neuen Europa zu entwerfen.
Vor ein paar Jahren gab es eine große Diskussion über schrumpfende Städte. Inzwischen gibt es in ganz Europa verlassene Landschaften. So gut es vielen in Europa geht, das Haus Europa ist für seine Jahr für Jahr weniger gewordenen Bewohner viel zu groß geworden. Zwischen den Ballungsräumen breiten sich in Ost und West immer größer werdende Wüsteneien aus. Europa braucht Zuwanderung. Das ist freilich schon das falsche Wort. Die Menschen sollen nicht dazukommen. Wir brauchen sie nicht zur Erhaltung des stetig zerfallenden Status quo. Wir brauchen sie für ein neues Europa. Für ein Europa, das sich nicht klammert an das ihm entgleitende Bestehende, sondern das nach neuen Zielen greift.
Niemals bezahlbarer Wohnraum
Zukunft hat man nur, wenn man etwas riskiert. Man kann nur gewinnen, wenn man spielt. China hat mit und in seinen Sonderwirtschaftszonen experimentiert. Europa wird ähnlich verfahren müssen. Wenn man davon ausgeht, dass die Flüchtlingszuströme nicht wieder unter die 50.000 sinken werden, geht es zum Beispiel nicht um die Erweiterung des sozialen Wohnungsbaus, sondern um neue Städte und neue Industrieansiedlungen, in denen neue Produktions- und Arbeitsverhältnisse erprobt werden müssen. Was ist aus dem Papierhaus eines Kieler Ingenieurs geworden, das vor ein paar Jahren durch die Medien ging?
Mit der bestehenden Bauindustrie werden wir niemals bezahlbaren Wohnraum für eine wachsende Bevölkerung bekommen. Das gilt für viele Bereiche unseres Lebens. Sie werden von Kartellen – denken Sie nur an das Gesundheitswesen – organisiert, die sich den Staat und seine Bürger als Beute genommen haben. Wir werden sie ohne die Hilfe von Zuwanderern nicht abschütteln können. In sechzig Jahren Frieden haben Wirtschaft und Politik sich – hat man manchmal den Eindruck – lustvoll verklumpt. Ohne die Flüchtlinge, ohne die Zuwanderer, die ja zu keinem dieser Kartelle gehören, werden wir aus dem Status quo nicht herauskommen.
Das Boot ist nicht voll
Das Modell Deutschland, das Modell Europa muss sich jetzt, da es so beliebt ist wie nie zuvor in der Geschichte, neu definieren. Es gibt dafür keine Blaupause. Wir werden experimentieren müssen: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Es wird keine Lösung geben, die für alle eine ist. Wir werden uns zu einer Risikogesellschaft machen müssen, weil wir schon längst eine sind. Und eins noch: Das Boot ist nicht voll. Ganz im Gegenteil. Das Boot verlor in den letzten Jahren immer mehr Ruderer. Wir müssen es fit machen – auch für neue Steuermänner und -frauen.