Kommentar zur Wettbewerbsfähigkeit: Ein räuberisches Prinzip
Europa hat ein Problem: Seine Wirtschaft wächst zu wenig. Und es hat einen Schuldigen: Frankreich, beziehungsweise genauer, Frankreichs Gewerkschaften und reformunwillige Politiker. Sie, so heißt es, blockieren das, was nötig ist: Strukturreformen. Hinter diesem so neutral klingenden Wort verbirgt sich ein Programm, das die soziale Spaltung Europas vorantreibt.
Hört man Politikern und Ökonomen in Deutschland zu, so ist die Sache einfach. Frankreich – und Italien – sind international nicht wettbewerbsfähig. Also brauchen sie Strukturreformen. Diese machen die Wirtschaft fit für den Weltmarkt, wovon letztlich alle profitieren – Unternehmen, Arbeitnehmer, Staat. Der ehemalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso versprach jüngst, „dass Veränderungen und Reformen, wenn sie auch manchmal schmerzhaft sind, uns allen eine sicherere Zukunft ermöglichen“. Das „schmerzhaft“ ist ein Hinweis darauf, dass keineswegs alle profitieren.
Das Problem, das Strukturreformen lösen sollen, benannte ein Investmentbanker in schöner Klarheit: „Die Gewinnspannen der Unternehmen sind zu niedrig.“ Um dieses Problem zu lösen, wird vor allem an den Arbeitskosten angesetzt. Der Aufwand der Firmen für Arbeitnehmer – inklusive sozialer Sicherung – soll sinken, um die Lohnstückkosten zu drücken.
Wie Staaten das bewerkstelligen, dafür lieferten in den vergangenen Jahren die europäischen Krisenländer Anschauungsmaterial. In Spanien, Irland, Portugal und Griechenland wurden durch „mutige“ Reformen die Mindestlöhne gekappt, der Kündigungsschutz geschleift, Feiertage gestrichen, die Arbeitszeit flexibilisiert, die Lebensarbeitszeit verlängert und das gesamte System der Lohnverhandlungen dezentralisiert, um die Macht der Gewerkschaften zu beschneiden. In Jahrzehnten erkämpfte – oder gewährte – Arbeitnehmerrechte verschwanden im Reformstrudel und kommen nicht mehr wieder. Zum Wohle von Wettbewerbsfähigkeit und höheren Gewinnspannen.
Nicht wettbewerbsfähig, zu teuer!
In den kleinen Staaten Südeuropas ließen sich die Reformen angesichts der Krise durchsetzen. Nun werden mit Frankreich und Italien zwei Schwergewichte der Euro-Zone unter Reformdruck gesetzt, die weniger unter einer Krise leiden, sondern unter ungenügendem Wachstum. Liest man Ökonomen-Studien, so handelt es sich hier um wahre Arbeitnehmerparadiese: In Frankreich gilt die 35-Stunden-Woche, in Italien sind die Arbeiter kaum kündbar. Tatsächlich arbeitet der Franzose zwar 40,7 Stunden (Deutschland: 41,7), und in Italien sind zwei Drittel aller Arbeitnehmer prekär beschäftigt. Beide Länder haben bereits Reformen durchgeführt. Doch nicht genug. Das Urteil lautet: nicht wettbewerbsfähig, zu teuer!
Dieses Urteil folgt einer einfachen Logik. Beispiel Frankreich. Dort sind die Gewinne zu niedrig. Warum? Weil Unternehmen in anderen Euro-Ländern mehr verdienen. Dort sind die Steuern zu hoch. Warum? Weil sie in anderen Euro-Ländern geringer sind. Dort sind die Lohnstückkosten zu hoch gestiegen. Warum? Weil sie in anderen Euro-Ländern weniger gestiegen sind. Das Prinzip Wettbewerbsfähigkeit fordert den permanenten Vergleich.
Unter Druck gerät Frankreich nun durch die Reformen anderer Länder, die ihre Lohnkosten gesenkt haben. Eine Überschlagsrechnung zeigt: Um wieder wettbewerbsfähig zu werden und ihrer Industrie eine angemessene Rendite zu ermöglichen, müssten die Arbeitskosten in Frankreich und Italien um nicht weniger als 15 bis 30 Prozent fallen. Dann könnten sie zum Beispiel wieder mit Deutschland mithalten, wo das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt heute so hoch liegt wie im Jahr 2000.
Folgt Frankreich den Forderungen, so verbessert es seine Wettbewerbsposition. Logische Folge: andere Länder steigen ab. Dann sind sie wieder dran mit Strukturreformen. Irgendwann wird die Reihe auch wieder an Deutschland sein.
Das Prinzip „Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“ ist gefährlich. Denn es basiert darauf, die eigene Position gegenüber den Konkurrenten zu verbessern, um ihnen Geschäft streitig zu machen. Es ist ein räuberisches Prinzip, ein Prinzip des Gegeneinander, das kein Ende kennt: Schließlich ist die Arbeit in China noch billiger und auch in den USA, wo das durchschnittliche reale Haushaltseinkommen so hoch liegt wie 1989. Die Kosten dieses Dauer-Kampfes der Standorte, dessen Zwischenergebnisse Weltbank, EU-Kommission und andere Institutionen in ihren Competitiveness-Rankings laufend notieren, tragen die Arbeitnehmer. Ihre Verhandlungsmacht ist in allen Industrieländern in den letzten Jahren gesunken. Außer in Frankreich.