400. Todestag: Der traurige, böse Witz von William Shakespeare und Miguel de Cervantes

Shakespeare und Cervantes also, zu würdigen in einem Artikel. Jeder vernünftige Mensch verweigert solche Aufträge. Kurt Tucholsky zum Beispiel, ein sehr vernünftiger Mann, soll regelmäßig von einem Albtraum heimgesucht worden sein: Mitten in der Nacht werde er mit dem Auftrag geweckt, am folgenden Tag einen Vortrag über „Goethe als solchen“ zu halten. Derlei kann man nur ablehnen. Aber kann man aufhören, die Bücher dieser beiden Herren zu lesen?

Shakespeare und Cervantes starben vor 400 Jahren, nicht exakt am selben Tag, wie es die Legende will. Cervantes verließ uns am 23. April 1616, Shakespeare am 3. Mai; Spanien führte damals bereits den gregorianischen Kalender, England noch den julianischen. Zwei Zeitrechnungen in derselben Welt: Das könnte man für eine Erfindung der beiden Erfindungsgroßmeister halten, wenn es nicht der Wirklichkeit entsprochen hätte. Aber was heißt schon Wirklichkeit: Auch sie will gut erfunden sein, um glaubhaft zu sein. Um nicht irre an ihr zu werden.

400 Jahre ist keine Kleinigkeit. Shakespeare und Cervantes: vor allem Fremde. Cervantes nahm an der Schlacht von Lepanto teil, die linke Hand wurde ihm zerschossen. Wer weiß noch, wann diese Schlacht war, warum sie damals kämpften? Sie war 1571, der Papst und Spanien stritten wider das Osmanische Reich. Diese Schlacht hat die Welt verändert, bis heute, aber das ist für die meisten bloße Vergangenheit, kompliziert, fern.

Shakespeares Figuren wurden von zerrütteten Verhältnissen geschaffen

1 000 Jahre war England römisch-katholisch gewesen, unverändert. In den 25 Jahren vor Shakespeares Geburt 1564 wechselte das Land vier Mal die Konfession. Katholisch ohne römisch, protestantisch, wieder katholisch, dann erneut protestantisch, aber in anglikanischer Auslegung. Es ist schwer, die Unterschiede in allen Verästelungen festzumachen, auch für Spezialisten. Aber man kann sich gut vorstellen, wie beunruhigend und bedrohlich das damals empfunden wurde.

Hamlet und Othello, Don Quijote und Sancho Panza, Richard III. und Romeo: Solche Figuren fallen nicht vom Himmel, sie wurden von zerrüttenden, verwirrenden Verhältnissen geschaffen. Das ist ja das Seltsame: Die Shakespeare-Cervantes-Welt ist weit weg, ihre Figuren sind es nicht. Oder glaubt man das nur, weil das Klassiker-Label den Blick verstellt?

Am besten ist noch immer zu lesen, immer wieder zu lesen. Den Roman „Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha“ zum Beispiel, am besten in der herrlichen Übersetzung von Susanne Lange. Aber lesen ist gefährlich, nicht nur, weil man schwer aufhören kann; es gibt ja tatsächlich so etwas wie die Don-Quijote-Sucht, belegt seit gut 400 Jahren, seitdem 1605 der erste und 1615 der zweite Teil erschien. Gefährlich ist es auch, weil man beim Lesen drauf und dran ist, es diesem Don Quijote gleich zu tun, sich irgendeinen Gaul zu satteln und in die Welt so lange hinauszureiten, bis es sie gibt, obwohl sie schlicht erfunden ist.

Das Schönste an „Don Quijote“ ist, dass dieser Ritter von der traurigen Gestalt und sein Begleiter, Sancho Panza, selbst wissen, dass sie Fiktionen sind, es aber nicht glauben können oder wollen. Im zweiten Teil des Romans treffen sie auf einen gewissen Samson Carrasco. Er hat den ersten Romanteil gelesen, jetzt trifft er auf die Figuren. „Dann ist es also wahr, dass es meine Geschichte gibt?“, fragt Don Quijote. „So wahr, dass inzwischen bereits zwölftausend Bände gedruckt sind“, antwortet Carrasco. Das Erfundene ist wahrer als die Wirklichkeit, die Fantasie realer als das Echte.

Die Verrücktheit von Don Quijote

Wie jede Macht kann auch die der Literatur missbraucht werden: Jago erfindet lauter Eifersuchtsgeschichten, die er Othello erzählt, bis er verrückt wird, weil er nicht mehr weiß, was er glauben soll. Und nie weiß man zuvor, was die Literatur mit dem Leser macht: Don Quijote liest lauter alte Ritterromane und kommt auf die Idee, verrückt zu spielen, bis er es ist. Es gibt keine Garantie, dass es einem als Leser nicht genauso ergeht.

Hegel hat behauptet, die „Verrücktheit“ von Don Quijote bestehe in seiner „reflexionslosen Ruhe“, darin, „dass er seiner und seiner Sache so sicher ist und bleibt“. Das stimmt nicht. Die Verrücktheit besteht in seiner hochreflektierten Unruhe, darin, dass er immer sehr genau weiß, was er tut, sich aber rigoros weigert, sein Tun und Lassen schon für die ganze Welt zu halten. Die Mutter aller Wissenschaften, sagt Don Quijote, ist die Erfahrung, und die Erfahrung lehrt, dass es „mehr Ding“ im Himmel und auf Erden gibt“ als die „Schulweisheit sich träumt“. Das sagt Hamlet, sehr zu Recht, aus seiner Erfahrung nämlich, dass der Irrsinn sich gern als Vernunft verkleidet. Und umgekehrt. Es hilft nicht viel gegen diese Versteckspiele, außer die Literatur, außer das Versteckspielen selbst.

Zu Beginn von „Don Quijote“ trifft der geistvolle Ritter auf eine Gruppe Händler. Er verlangt, dass sie die Schönheit der Dulcinea lobt. Das wollen die Händler gern, zuvor jedoch ein Bild von ihr sehen. „Ohne zu sehen, müsst ihr glauben, bekennen, bejahen, beschwören und verfechten“, verlangt Don Quijote. Es ist bezeichnend, dass gleich sein zweites Abenteuer dem Wesen der Literatur gilt: Er streitet für eine Schönheit, die man nicht sehen kann, nicht beweisen, nicht abbilden – und die es dennoch gibt, so sehr gibt, dass sich Quijote dafür verprügeln lässt. Literatur ist nie folgenlos, natürlich nicht.

In der ersten Szene von „Hamlet“ wird Horatio „starr vor Furcht und Staunen“, weil er etwas sieht, das es den Vernunftregeln nach nicht zu sehen gibt: einen Geist. Er schweigt und bleibt für Horatio „erstaunlich fremd“: Sieht den Geist zwar, aber glaubt seinen Sinnen nicht. Für Hamlet dagegen, dem das „ganze Treiben dieser Welt“ so „ekel, schal und flach“ erscheint, ist das ein sprechender, realer Geist, sein Vater zudem. Alles spricht gegen seine Existenz, gerade deshalb spricht er wahr.

„Ich weiß, wer ich bin“

Mit dieser Szene tritt Shakespeare als geistiger Vater des Hamlet selbst auf, um seinem Stück das Motto vorzugeben: Es ist alles Spiel, aber wirklich für jene, die mitspielen. Man macht sich einen falschen Begriff davon, wenn man das Spielen als Unernst nimmt. Nichts ist verbindlicher als das Spiel, man schaue auf die Kinder. Wer sie im Spiel stört, zerstört ihre Welt. So ist es auch bei Shakespeare: Seine Figuren suchen das Leben, sie wollen Macht, Rache, Liebe, aber immer kommt das Theater dazwischen, immer verspielen sie sich. Jede Szene ist bei Shakespeare ein Stolpern und Stürzen: Die Figuren suchen Wahrheit und finden das Spiel, bis es den Unterschied zwischen Spiel und Leben nicht mehr gibt.

Das teilen sie mit den Cervantes-Figuren. „Ich weiß, wer ich bin“, sagt Don Quijote. Vielleicht weiß er das, der Leser weiß es jedenfalls nicht. Es ist beim Lesen immerfort, als betrachte man einen kunstvoll gewobenen Teppich gleichzeitig von beiden Seiten, von hinten und von vorn, als sähe man das Muster und zugleich die Machart. Man kann einen Teppich nicht von vorn und hinten zugleich sehen, aber bei Cervantes geht auch das.

Seit Kurzem ist sein letzter Roman wieder erhältlich, „Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda“. Er übertrifft den „Don Quijote“ noch, er ist so dicht gewebt, so sprunghaft und zugleich harmonisch, dass man als Leser den Eindruck hat, man falle in das Buch hinein und finde nicht mehr heraus.

Es gibt genügend, was Shakespeare und Cervantes trennt; es eint sie, dass ihnen die Fantasie, die Sprache, der traurige, böse Witz alles ist. Sie wollen nichts erklären, haben nichts zu verkünden, keine Botschaften und keine Ressentiments zu verteidigen. Sie wollen den Menschen verstehen. Der Mensch ist aber nicht zu verstehen. Deshalb gibt es Literatur, deshalb gehören Shakespeare und Cervantes zu den ewig Jungen. Man müsste sie erfinden, gäbe es sie nicht.

Literaturempfehlungen:

Miguel de Cervantes: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Aus dem Spanischen mit Anmerkungen von Petra Strien. Nachwort von Gerhard Poppenberg. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, 598 S., 42 Euro. – Cervantes’ letztes, herrlich irrlichterndes Buch, kurz vor seinem Tod noch abgeschlossen, mit sehr hilfreichen Anmerkungen, in einer wunderbaren Übersetzung.

Uwe Neumahr: Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. C. H. Beck 2015, 394 S., 26,95 Euro – Was es über Cervantes zu wissen gibt, steht in diesem Buch. Dazu einige gewagte Interpretationen und reichlich Aufschlussreiches über seine Zeit.

Guillermo Aparicio: Windmühlen sind keine Giganten. Briefe an Don Miguel de Cervantes vierhundert Jahre nach seinem Tod. Kröner 2015, 159 S., 14,90 Euro – Ein Buch für Liebhaber mit vielen schönen Beobachtungen und Hinweisen, immer mit Blick auf unsere Gegenwart. Sehr unterhaltsam.

Ellen Alpsten, Helene Sandberg: Auf den Spuren von William Shakespeare. Knesebeck 2016, 144 S., 29,95 Euro – Man kann Literatur nicht abfotografieren, aber man kann sich zur Fantasie verführen lassen. Das tut dieses Buch und nährt damit die schöne Illusion, Shakespeare auf die Schliche zu kommen.

Frank Flöthmann: Shakespeare ohne Worte. DuMont 2016, 104 S., 19,99 Euro – Ein Shakespeare ohne Worte? Sogar das geht. Ein ungemein komisches, erhellendes Buch für Kenner und Einsteiger gleichermaßen.

Angela Schanelec, Jürgen Gosch: Shakespeare. Stücke. Verlag der Autoren, 500 S., 29 Euro – Jürgen Gosch gehörte zu den raffiniertesten Shakespeare-Regisseuren, die gemeinsam mit Angela Schanelec entstandenen Übersetzungen sind es nicht weniger und werden nach wie vor gern verwendet. Hier gibt es sie endlich in einem Band.