Berlin - Mette Ingvartsen. Das ist einer der Namen, die Chris Dercon auf der Pressekonferenz im Roten Rathaus immer wieder fallen ließ, als er vor einigen Wochen als der kommende Intendant der Volksbühne vorgestellt wurde und es darum ging, schnell eine Art von künstlerischer Richtung zu markieren, in welche die Reise nach Castorf gehen wird. Mette Ingvartsen? Die Gesichter im Saale waren vorwiegend ratlos. Außerhalb der Tanzszene ist der Name der dänischen Choreografin wenig bekannt. Dercon nutzte das aus und handelte sie mit beschwörerischer Stimme als seinen großen Geheimtipp.
Jetzt ist die Künstlerin da. Schon mehrfach gastierte sie in den vergangenen Jahren im Berliner HAU. Nun zeigt sie dort, im HAU 3 ihr letztes, 2014 in Essen uraufgeführtes Werk. Es geht, wie der Titel schon andeutet, um Sex. „69 Positions“ ist eine Mischung aus Performance, Tanz, Lecture und Ausstellung, und es ist als Ganzes gesehen ziemlich gut gemacht. Die Bühne des HAU3 ist in einen Ausstellungsraum verwandelt; Stäbe hängen an den Seiten herunter; dazwischen sind Bilder und Bildschirme montiert; der Raum hat etwas von einem Käfig.
Ingvartsen steht am Eingang des Gerüsts und begrüßt lächelnd jeden Einzelnen, der diesen Raum betritt zu ihrem Soloabend, der alle aktuellen Kunsttrends wohlkalkuliert vereint, vor allem Sex und Partizipation. Eine besonders interessante und verlockende Mischung. Jedenfalls dann, wenn die Sache mit der Partizipation auch klappt.
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Menschen, die mit ihrer Sexualität auf der Bühne umgehen, sind in ihren Haltungen meist ziemlich extrem. Beziehungsweise ist das lange so gewesen. Bei Mette Ingvartsen ist das anders. Sie ist einfach eine bestens ausgebildete Choreografin und Performerin, die ihr Handwerk versteht, dabei intelligent ist, gut aussieht und über enorme Präsenz verfügt. Schon seit einigen Jahren hat sie Sexualität zum Hauptthema ihrer Performancekunst gemacht, und es hat sich für sie gelohnt.
Man wird gut unterhalten
Irgendein persönliches Anliegen oder bohrende Fragen sind zwar nicht erkennbar, aber was sie macht ist gut gebaut und unbedingt auf Konzeptkunst-Diskurshöhe. Das reicht allemal, um von Festival zu Festival zu hüpfen und von trendsetzenden Chefkuratoren entdeckt zu werden.
Gut unterhalten wird man wirklich. Den Höhepunkt überlässt Ingvartsen großzügig den Zuschauern. Vier Freiwillige bekommen Kopfhörer und ahmen so präzise, wie es ihnen möglich ist, einen multiplen Orgasmus nach. Natürlich, bis sich für so etwas Freiwillige finden, muss man erst einen gemeinsamen Weg zurückgelegt haben. Mette Ingvartsen selbst ist zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich lange nackt.
Sie hat uns eingeführt ins Thema mit einem Rückblick auf die Heroinen der sexuellen Befreiung aus den 1960ern. Etwa auf „Meet Joy“ (1964) von Carloee Schneemanns, mit der sie eine Briefkorrespondenz führte, aus der sie vorliest. Oder Ann Halprins „Parades and Changes“, aus dem Ingvartsen den Prozess des An- und Ausziehens unter Wiedergabe des damaligen politischen Diskurses über den nackten weiblichen Körper repitiert.
An den Seiten, auf den Monitoren, beginnen derweil die Akteure aus den Kunstaktionen der 1960er-Jahre lauter zu stöhnen. Es wird später auch noch dunkel werden und gemütlich, und alle setzen sich auf den Boden. Ingvartsen sitzt nackt hinter einem Schreibtisch und erzählt uns als Märchentante vom Sex und von elektrischen Lust-Elektroden. Da ist der Abend auch schon fast zu Ende.
Er steuert jetzt auf seinen zweiten und letzten Höhepunkt zu: Ingvartsens nicht endender Masturbations-Akt mit einem Stuhl, bei dem man ihren muskelgestählten Körper und ihr Sixpack bewundern kann. Danach noch einmal ein ebenso gestähltes Lächeln für alle mit dem Wunsch zu einer vergnüglichen Nacht. Ein schaler Wunsch – und vielleicht auch genau so gemeint. Mette Ingvartsens Kunst ist wie der Sex, den sie ihren Zuschauern wünscht, ziemlich steril und ziemlich kalkuliert.
Der Richtungswechsel, der der Volksbühne bevorsteht, lässt sich bereits erahnen anhand der merkwürdigen Koinzidenz, dass an zwei aufeinanderfolgenden Abenden zwei Stücke über Sex und Macht in Berlin zu sehen waren. Einen Abend zuvor hatte an der Volksbühne der Veteran Johann Kresnik „Die 120 Tage von Sodom“ gezeigt: großes Anliegen, peinlicher Abend. Ihm folgte die funktionstüchtige Mette Ingvartsen: ein Erfolg. Wo in Berlin darf künftig gescheitert werden?