Ägypten: Die kostbarste aller Rumpelkammern

Berlin - Hier ist alles falsch. Mehr als eintausend Objekte auf viertausend Quadratmetern und nichts davon ist echt. Genau das aber ist goldrichtig. Einer der größten Schätze der Archäologie, der Schatz des Tutanchamun, den Howard Carter im Jahre 1922 entdeckte, ist anders gar nicht zu zeigen.

Die Ausstellung in der Berliner Arena zeigt ihn so, wie Carter ihn vorfand: die teuerste Rumpelkammer der Weltgeschichte. Die Besucher blicken nacheinander in drei Grabkammern. Sie folgen den Schritten des Entdeckers. Allerdings lagen bei Carter zwischen der Vorkammer und der Hauptkammer Monate. Dieser hatte am 26. November 1922 die Vorkammer entdeckt und erst am 17. Februar 1923 die Hauptkammer betreten. So lange hatte es gedauert, bis er erstere besenrein ausgeräumt hatte. In der Hauptkammer war der Sarkophag und in diesem ein goldener Schrein, in dem noch einer und noch einer und noch ein vierter lag.

Nirgendwo auf der Welt kann man diese Schätze sehen. Es sind mehr als 3 500 Stück. Ein paar hundert sind im Ägyptischen Museum in Kairo ausgestellt, der Rest liegt mehr oder weniger wohlverwahrt in Kisten. Manche wohl noch in denen, in die sie vor hundert Jahren gesteckt wurden. Es sind Hunderte von Uschebtis dabei, kleine, elegante Statuetten, die die jenseitige Dienerschaft des Pharaos darstellten. Man schaudert bei dem Gedanken, dass sie die Stellvertreter für Menschen waren, die dem König mit ins Grab zu folgen hatten. Dieser Gedanke wirft ein eigentümliches Licht auf den Zusammenhang von Eleganz und Brutalität.

Kein Freizeitpark

Der Besucher, der so weit ist, hat schon einen Vortrag und einen Film hinter sich. Die Ausstellung ist kein Freizeitpark, in dem man sich schnappt, wonach man Lust hat. Man folgt einem strengen Parcours und man tut gut daran. Denn man bekommt so beides mit: Howard Carter, den besessenen Abenteuer-Archäologen des frühen 20. Jahrhunderts nach Christus und Tutanchamun, den Pharao der Jahre 1332-1323 vor Christus.

Tutanchamun war bei seinem Tod zwischen 18 und 20 Jahre alt. Man kann darum gut bezweifeln, dass er viel zu sagen hatte. Tatsache aber ist, dass unter dem Namen seiner Regentschaft die Restauration des alten Glaubens betrieben wurde. Auch mit seinem Namen. Sein Geburtsname war Tutanchaton: Lebendes Abbild des Aton. Aton, die Sonnenscheibe, war von Tutanchamuns Vater, vom Pharao Echnaton, ins Zentrum des ägyptischen Götterhimmels gerückt worden. Tutanchamuns Vater war der erste bekannte Propagandist eines Monotheismus. Bei Tutanchamun ist Aton so gut wie verschwunden. Es gelten wieder die alten Götter und deren Hierarchie. Aber wer aufmerksam durch die Ausstellung geht, wer dem Audioguide folgt, der wird auf den Thron des Pharaos stoßen, wird die zärtliche Geste bewundern, mit der die Gemahlin dem König die Schulter salbt und dann wird er nach oben sehen und die Sonnenscheibe entdecken, deren Strahlen, wie in den Darstellungen der Zeit Echnatons, in gebende Hände auslaufen.

Die Zeit der Restauration, die Zeit aber auch eines Überganges, in dem das eine wieder herrscht, das andere aber noch nicht ganz getilgt wurde. Man kann sich vorstellen, wie durcheinander damals alles war, wie man einerseits die alte Ordnung unbedingt wiederherstellen wollte, wie man andererseits aber darauf angewiesen war, es mit einem Kind der neuen Ordnung zu tun. Wer aber ist man? Die Schau versucht auch in dieses große aktuelle Rätselraten, bei dem es um halb zerstörte Inschriften, um schwer zu identifizierende Mumien und deren DNA geht, ein wenig Klarheit zu bringen.

Alles durchscannen

In dieser Ausstellung, in der kein einziger echter Gegenstand gezeigt wird, ist dennoch alles richtig. Ägyptologen haben jeden der tausend Gegenstände betrachtet und überprüft. Jede Zeile der Kommentare ist immer wieder gecheckt und gegengecheckt worden. Die komplizierten Familienverhältnisse wurden noch und noch untersucht. Dem Besucher wird zugetraut, dass er versteht, dass man nicht alles hundertprozentig wissen kann. Es ist eine Ausstellung, die sich an vernünftige Leute von 6 bis 96 richtet.

Es wird Kinder geben, die in dieser Ausstellung jeden der vergoldeten Sargbehälter eine halbe Stunde lang durchscannen. Sie werden alles und jedes Detail begreifen wollen. Sie werden zurückgehen und sich ihre Gedanken machen, warum das eine oder das andere Motiv immer wieder kommt und sie werden keine Ruhe geben, bis sie eine Antwort bekommen. Andere werden an den Händen ihrer Eltern bleiben mit offenen Mündern das Gold und seinen Glanz bestaunen und so eine Ahnung bekommen, wozu der Mensch fähig ist, wenn er einen Glauben hat. All diese Schätze, dieser Reichtum, der ja nicht nur einer an Gold ist, sondern auch einer an Handwerkskunst, war dazu gedacht, dem König im Jenseits zu dienen. In Wahrheit aber verstaubte er Jahrtausende lang in ein paar Grabkammern in den Felsen der Wüste des mörderisch heißen Tals der Könige. Tutanchamuns wahres Jenseits ist das Ägyptische Museum am Tahrir-Platz in Kairo, dem Ort, an dem wieder ein neues gegen wieder ein altes Ägypten aufbegehrt.

Hier in Berlin aber sehen wir Repliken Tutanchamuns. Das sind nicht Stücke für die Ewigkeit gedacht. Die Barken sollen den Pharao nicht sicher ins Jenseits bringen. Was hier ist, erinnert uns nur daran, was einmal sein sollte. Wir betrachten diese Repliken ohne schlechtes Gewissen. Wir mischen uns nicht ein in die Glaubensvorstellungen der alten Ägypter. Wir haben uns nur ein Bild machen lassen von ihnen. Der Pharao mag sich tatsächlich irgendwann doch noch einmal in eine wirkliche Ewigkeit begeben. Diese Repliken haben das nicht vor.

Die Masse macht's

Billig waren sie auch nicht. Fünf Millionen Euro soll die Ausstellung, so wie sie jetzt hier in Berlin steht, kosten. Dazu kommen noch zwei bis 2,5 Millionen, die an jedem Ort für Miete, Aufstellung, Werbung usw. aufgebracht werden müssen. Keine Kleinigkeit. Für diesen Preis könnte man sicher eine Reihe von Original-Amuletten, den einen oder anderen Original-Anubis, vielleicht auch ein paar Original-Eingeweidebehälter nach Berlin transportieren. Man muss nur hinübergehen in die großartige Amarna-Ausstellung im Ägyptischen Museum, um den Unterschied zu sehen. Dort 200 Fundstücke – Bohrköpfe, Sichelklingen und Nadeln mitgezählt. Ein kurioses Durcheinander.

Hier, in der Arena, tausend Stücke, die zusammen ein Ensemble rekonstruieren, das es genau so einmal gab: Das war die Grabkammer. Das war in ihr drin, das war ihr Verwendungszweck. Die Masse machts. Dem Pharao wurde das Leben ab- und nachgebildet, damit er es drüben auch hatte. Nichts sollte er vermissen, nicht seine Frauen, nicht sein Herz, nicht die Diener und nicht die Schönheit der Gärten. Auch die Gerüche der Blumen nicht und nicht die ihn tragenden Götter. Aber auch nicht die Sandalen, auf deren Boden dunkelhäutige Nubier und spitzbärtige Asiaten zu sehen sind. Auch im Jenseits noch wird der Pharao mit jedem Schritt seine Feinde mit Füßen treten. Es gibt Fächer, die ihn zeigen bei der Jagd mit dem Streitwagen. Auf all diese Herrlichkeiten sollte er nicht eine Sekunde verzichten.

Es ist wichtig, dass wir das alles sehen, dass wir eine Vorstellung haben von dem Lebenshunger, dem sich dieser Totenkult verdankt, von der unstillbaren Lust nach Ewigkeit, die sich hier ausdrückt. Die aber, wir müssen das sagen, doch spätestens in dem Augenblick, da wir sie wiedergefunden haben, widerlegt ist. Alles war vorbereitet für die Auferstehung des Fleisches. Das Körperinnere einbalsamiert und bewahrt in kostbaren Gefäßen, die Mumie bestens präpariert, wohl verwahrt in ihrem vierfachen Sarg. Daneben die Götter, die die Komponenten zusammensetzen sollten. Aber immerhin es mehr als 3 000 Jahre nicht getan haben. Wir gehen ergriffen durch diese Ausstellung. Sie ist nicht nur bunt, lebenslustig, ja, lebensgeil, sie ist auch das Zeugnis einer großen Religion, einer immensen Anstrengung, dem Tod den Stachel zu nehmen, ihn als nichts als eine Tür zu betrachten, durch die man in ein anderes Leben geht. Das freilich, ist das Rührende, das so anders nicht sein sollte.

Ein großartiges Happening

Immer wieder Anubis, der Hunds- oder Schakalgott, der den Gestorbenen zur Totenwelt führen wird. Anubis hatte in der altägyptischen Mythologie den von seinem Bruder Seth zerstückelten und in der Welt verteilten Osiris wieder zusammengesetzt, so wie er hier den toten Pharao wieder zusammensetzen sollte. Man geht durch diese Ausstellung und nach und nach erschließt sich einem dieses oder jenes Stück der Rumpelkammer. Man muss sich nur faszinieren lassen, dann beginnt jedes der Stücke zu sprechen. Erst für sich wie Schakale und Hunde, die Wüstenbewohner, die um die Gräber schleichen. Dann werden Geschichten um sie erfunden oder alte Geschichten mit ihnen verbunden und dann geht es weiter und die Geschichten fügen sich zusammen zu einer großen Erzählung von Tod und Auferstehung.

Man kann verloren gehen in der Fülle des Dargestellten und Vorgestellten, aber auch dieses Gefühl gehört dazu. Es ist Teil der Ausstellung, wie es Teil unserer Geschichte ist. Ich mag diese Ausstellung, weil sie, wie keine andere, die Anstrengung deutlich macht, mit der der Mensch sich dem Tode entgegenstellt und weil sie zugleich – nur weil sie durch alle Replikate hindurch ehrlich ist – die Vergeblichkeit dieser Anstrengung deutlich macht.

Diese Ausstellung ist ein großartiges Happening, eine aufregende Indiana-Jones-Geschichte, eine Sternstunde für Swarovski-Liebhaberinnen aller Altersgruppen – man kann im Shop auch ein paar hübsche Imitate kaufen –, sie ist aber auch eine Meditation darüber wie wir sterben, also auch, wie wir leben wollen.

Sie predigt nicht. Sie führt nur vor, was vor mehr als dreitausend Jahren Menschen, die nicht dümmer und nicht klüger waren als wir heute, dachten und hofften, nachdem sie sich gerade gewaltsam getrennt hatten von dem Glauben und von der Hoffnung auf den einen Gott: „Die Welt entsteht auf deinen Wink, wie du sie geschaffen hast. Bist du aufgegangen, so leben sie, gehst du unter, so sterben sie. Man lebt durch dich.“