Aerial Fitness in Berlin: Fast wie im Cirque de Soleil

Berlin - Die Gegend um die Jannowitzbrücke ist nicht gerade die schönste Ecke von Berlin. Wenn es dann noch in Strömen regnet, wünscht man sich an einen anderen Ort. Jedoch nur bis zu dem Moment, an dem man die Tür zum Fl’air Studio öffnet. Hier empfängt einen eine Atmosphäre wie im Cirque de Soleil.

Das Studio befindet sich in einem S-Bahn-Bogen. Wände und Decke sind weiß gestrichen. Bunte Stoffbahnen hängen von einer Konstruktion unterm Gewölbe. In tiefem Rot, Kobaltblau, Safrangelb und Purpur fallen die Tücher sechs Meter tief auf den Boden, wo sich ihre langen Enden kräuseln. Die Fenster stehen offen. Ein Boot zieht vorbei.

Schweben über dem Boden

Leise Musik tönt aus kleinen Boxen, etwas Gefälliges, „Kiss“ von Prince oder Songs im Easy-listening-Stil. Die Angst vor der Stunde Aerial Fitness verflüchtigt sich. Dazu trägt auch die freundliche Begrüßung von Keeva Treanor und Brennan Figari bei, die hinter dem Tresen sitzen. „Hallo, komm rein“, sagen sie, als beträte man ihr Wohnzimmer. Die Auflage auf der Theke ist ein dickes Brett aus natürlichem Holz. Das unterstreicht die Verbindung zur Natur, zum Elementaren, die hier durch den Raum schwingt. Ich ziehe mich um.

Meine Erwartungen sind gemischt: Aerial klingt nach Luft, nach Fliegen oder Schweben, Fitness nach Anstrengung. Fl’air bietet mehrere Varianten von Aktivitäten in der Luft an: Aerial Silk ist das, was ich ausprobiere, das Turnen am sogenannten Vertikaltuch. Außerdem gibt es Aerial Yoga und Aerial Hoop, den Luftring.

Die Fotos von Keeva und Brennan auf der Webseite sind wunderschön: In Schlaufen aus Stoff schweben sie lächelnd über dem Boden. Beide sind professionelle Artisten mit Engagements an Berliner Bühnen, Keeva stammt aus Irland, Brennan aus San Francisco. „Dit is Berlin“, denke ich, als sie mir das erzählen.

Ich habe mir vor der Stunde keine Gedanken gemacht, wie Keeva oder Brennan in die Luft kommen. Wie ich ergo selbst in die Luft komme. Als wir uns am Boden aufwärmen, nehme ich wahr, dass hier nirgends eine Leiter, ein Tritthocker oder Ähnliches zu sehen ist.

Meine Mitsportlerinnen sind allesamt Frauen und zwischen 25 und 40 Jahre alt. Sie sind schlank, aber nicht dünn oder drahtig. Ich befinde mich in einer Gruppe von ganz normalen jungen Menschen, die gerade aus dem Büro, dem Homeoffice oder von der Uni kommen. Außer mir gibt es zwei weitere Neue: Laura, 36, Marketing-Managerin, und Christian, 32, ebenfalls Marketing-Manager. Der Sport zieht ganz offensichtlich Menschen aus trendigen Jobs an. Auf geht’s!

Keeva nimmt uns Neue beiseite. „Hallo, schön, dass ihr dabei seid. In der ersten Übung lernt ihr, das Seil hochzuklettern. Wir nehmen dafür die russische Schlaufe. Die ist ganz leicht“, sagt sie auf Englisch, der Umgangssprache bei Fl’air. Wir reißen – einer nach dem anderen – die Augen auf. Seil hochklettern? Russische Schlaufe? Um oben gemütlich zu sitzen, sollen wir die Schwerkraft überwinden und ein glattes Tuch hinaufklettern? Ja, das ist eine Überraschung!

Keeva kennt schon das Entsetzen, wenn die Wahrheit über den Weg zum Schweben ans Licht kommt. Sie lächelt, hebt das gelbe Tuch locker mit einer Hand an. Gleichzeitig lüpft sie ihr Bein im rechten Winkel, ihr Fuß ist angezogen. Dann – es wirkt wie ein Zaubertrick – umfasst sie das Tuch mit beiden Händen, zieht sich hoch, schlingt dabei das Tuch mit ihren Füßen so um die Füße selbst, dass es diese umwickelt. Dann steht sie im Bruchteil einer Sekunde strahlend, von den Schlaufen gehalten, hoch über uns.

Wir starren sie mit offenem Mund an. Keeva macht es noch einmal. Wir versuchen, die Abfolge der Bewegungen zu begreifen. Das ganze Umeinanderschlingen der Stoffbahn mit den Füßen geht so schnell. Doch die Mechanik erschließt sich: Der eine Fuß wird vom Tuch fest umwickelt, der andere nutzt den auf diese Weise geschaffenen Zug im Stoff, um sich selbst straff zu bandagieren. Eine Selbstfesselung, um Tritt fassen zu können an der Stoffbahn. Ein genialer Trick, aber können wir ihn reproduzieren?

Laura hat keine Scheu, greift nach dem Tuch, zieht sich hoch, strampelt mit den Füßen, findet keinen Halt, steht wieder. Zweiter Anlauf: Schon ist sie oben, diesmal legen ihre Füße das Tuch in der richtigen Reihenfolge über und unter sich – sie steht. Wir sind begeistert. „Natural monkey – du kletterst wie ein richtiger Affe“, rufe ich voller Bewunderung. Christian tut sich schwerer, obwohl er Bergkletterer ist.

Als ich an der Reihe bin, wünschte ich schon vor dem ersten Versuch, der Parkettboden öffnete sich, um mich zu verschlingen. Meine Arm- und Brustmuskeln sind nicht die kräftigsten, um es dezent auszudrücken. Ich ziehe mich mehr pro forma hoch und wurstele unter mir mit den Füßen herum. Doch ich bin zu schwach, um mich lange genug in der Luft zu halten, damit ich die Stoffbahnen in der richtigen Reihenfolge drapiere. Ich lasse los.

Keeva sieht, dass das wohl nicht viel Sinn hat. Sie ermuntert mich eher unentschlossen und zeigt nach meinem zweiten erfolglosen Versuch eine weitere Anfänger-Fußschlaufe. Sie kann im Stehen vorbereitet werden. Man hebt den Fuß und verknotet ihn – im Stil eines Seemannknotens – so fest, dass man in der Schlaufe ein paar Zentimeter überm Boden stehen kann. Die Hände greifen das Tuch, das andere Bein tritt in Schulterhöhe ins Tuch hinein, der Oberkörper sinkt nach hinten. Zwischen den beiden Füßen und den Händen spannt sich ein Dreieck auf. Ich versuche und schaffe es – unglaublich. Das ist fast schon eine artistische Pose! Und das in der allerersten Anfängerstunde.

Christian hat derweil der Ehrgeiz gepackt. Er versucht immer wieder den russischen Knoten und auf einmal sehe ich ihn fast oben unter der Decke. Aerial Fitness ist auf jeden Fall ein Sport, der anspornt. Auch ich bin ganz begeistert und versuche immer wieder die Luft-Grätsche. Zwar setze ich so tief an, dass ich nur ganz knapp über dem Boden hänge, aber egal, Hauptsache, irgendwas klappt hier.

Regelmäßige Liegestütze

Keeva überlässt uns selbst und hilft den anderen Kursteilnehmerinnen bei ihren Übungen. Manche klettern das Seil schon fix hoch, aber andere haben noch Probleme, sich hochzuziehen. Wir halten alle tapfer durch und freuen uns über kleine Fortschritte.

Als die Stunde zu Ende ist, gesteht Keeva uns Neulingen, dass das Hochklettern tatsächlich die große Hürde beim Zugang zur Aerial Fitness ist. „Viele tun sich damit schwer“, sagt sie. Sei diese Klippe aber genommen, werde es erheblich leichter. Ich habe Zweifel, plane aber dennoch, ab sofort regelmäßig Liegestütze zu machen. Es wäre doch zu schön, mal in die Genüsse der höheren Ebenen zu gelangen.