„Ich fühle mich in der Wut zu Hause“, sagt Jessy Lanza im Begleittext zu ihrem dritten Album „All the Time“. Angesichts der Musik überrascht das einigermaßen, denn die Platte bringt uns die wahrscheinlich leichtesten, elegantesten, zärtlichsten R‘n‘B und Nouveau Disco-Tracks der laufenden Saison.
Immerhin auf der Textebene stößt man auf allerlei instrospektive Motive. Neben Selbstzweifel, Verletzungen und Betrugsszenarien finden sich auch einige riskant hingebungsbereite Liebeserklärungen. Und auch das kann ja schwierig sein: „Once I’m spinning, I can’t stop spinning“ singt sie in der Single „Lick in Heaven“ – klingt nach Kontrollverlust, was ja durchaus zu den gewünschten Effekten von Clubmusik gehört.
Doch in Jessy Lanzas Disco kann man sich nicht verlieren. Zu spüren ist vor allem, wie sehr sie in den letzten Jahren an der Konkretion und Präsenz ihrer Musik gearbeitet hat. „All the Time“ ist ihr zugänglichstes und popnächstes Werk, wobei der ausnehmende Reiz darin liegt, wie raffiniert sie ihre frühen Experimente gleichsam zur Anwendung bringt.
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„All the Time“: Von Technopop bis R‘n‘B
Lanza, 1985 als Tochter zweier Musiker geboren, hat im kanadischen Hamilton Musik und Jazz studiert. 2013 hat sie mit „Pull My Hair Back“ für das britische Label Hyperdub des Dubsteppioniers und -theoretikers Kode 9 debütierte. Ihr Design war von den gleichen modernistisch weiten Räumen, den digitalen Modulationen und Flirren, den verfremdeten, gestückelten, verwehten Stimmen geprägt. Dass sie diese abstrakte Ästhetik jedoch eher als Startpunkt verstand, erklärte sie bereits mit dem Nachfolger „Oh No“ von 2016, das bei aller kühl-digitalen Ausstattung klug auf die Soundlieben ihrer Jugend verwies, von Achtziger-Technopop bis zum kühl-erotisierten R‘n‘B Janet Jacksons, deren „zugleich selbstbewusster wie sanfter Ton“ sie einmal als eine der größten Inspirationen bezeichnet hat.
Genau dort knüpft nun „All the Time“ an. Produziert hat sie wie von Beginn an gemeinsam mit Jeremy Greenspan, vom Housepop-Duo Junior Boys. Erstmals allerdings nur virtuell, weil Lanza 2017 der Liebe wegen nach New York zog. Interessant, dass sie gerade aus der Distanz zu Greenspan zu diesem melodisch, soulvollen Dancepop kam. Noch interessanter allerdings, wie sie diesen luftigen, krispen und geschmeidigen Sound aus sparsamen, kontrastierenden und ganz künstlichen Tupfern und Akzenten baut, mit schief-brummenden Bässen, plastillinartigen Synthfiguren und glockig-klopfender Percussion. Und wie sie den Schein organischer Feinheit aus erfindungreichen Verfremdungen ihrer Stimme bis in unwirkliche Kiekshöhen erreicht. Reiche Gefühle, vermittelt durch raffinierteste Kontrolle: Besser kann man Wut nicht managen.
Jessy Lanza - „All the Time“ (Hyperdub / Cargo)