In den letzten Wochen wurden wir mit vielen Ortsnamen in der Ukraine konfrontiert – als Stätten von Kämpfen, Beschüssen und Vertreibungen, propagandistisch von russischer Seite motiviert als Kampf gegen angebliche Nazis. Wenige Monate zuvor war ein ARD-Team durch die Westukraine gereist und hatte in Großstädten wie Dörfern nach den Spuren jüdischen Lebens gesucht, einer traditionsreichen Kultur, die ab 1941 vom Überfall der deutschen Nazis auf die Sowjetunion fast ausgelöscht worden war.
Start der Reportage ist erwartungsgemäß Lviv. Die Stadt, derzeit vor allem als Flüchtlingstreffpunkt in den Nachrichten, ist schon häufiger als europäischste Stadt der Ukraine porträtiert worden. Gern wurde die habsburgische Ära des früheren Lemberg herausgestellt. Doch vom jüdischen Shtetl ist nicht mehr viel übrig. Einige der einst 14 Synagogen wurden zu Sowjetzeiten umfunktioniert zu Turnhallen und Möbelgeschäften. Immerhin können einige Räume der Goldenen-Rose-Synagoge wieder als Gebetsraum genutzt werden.
Auch wenn die ARD-Doku „Osteuropa nach dem Holocaust“ betitelt wird, so beschränkt und konzentriert sich die Reise auf die Westukraine. Susanne Brahms und ihr Team, das mit der Kamera den Fotografen und Experten Christian Herrmann begleitet, fahren nach Brody, wo die Bevölkerung hofft, reiche ausländische Juden könnten die markante Festungssynagoge wieder aufbauen, von der nur noch die Mauern stehen. In Hrymajliw erfahren die Reporter, dass auch Ukrainer 1941 an Pogromen gegen die Juden teilnahmen – ein Hinweis darauf, dass Geschichte nie so schwarz-weiß und simpel ist, wie sie von den Kampfparteien derzeit gezeichnet wird.
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Eine Zeitreise durch die herbstliche Bukowina
In Kamjanez-Podilskyi gingen die deutschen Truppen vom Terror zum Völkermord über, erschossen mehr als 20.000 Juden. Oft befindet sich unter einem verwilderten früheren Friedhof ein Massengrab, über das die Einwohner lieber schweigen. Manchmal wurden Grabsteine weiterverarbeitet, zum Bau einer Schule. In Sbarasch steht die profanste Zweckentfremdung: Die bunt angemalte Synagoge ist Zentrum einer Wodkafabrik. Aber immer findet das ARD-Team auch Einwohner, die die Reste schützen und an die Geschichte erinnern. Doch eine jüdische Bevölkerung existiert kaum noch. Wer die säkularen Sowjetzeiten überstand, reiste spätestens ab Beginn der 1990er-Jahre aus. Selbst in der Großstadt Tscherniwzi, einst Czernowitz, wo ein Rabbiner aus Israel arbeitet, finden sich mitunter keine zehn Männer zum Gebet ein.
Insgesamt wirkt die Reise durch die herbstlich anmutende ukrainische Bukowina recht melancholisch. Die Ruinen der Synagogen sind meist nur noch verwunschene Orte. Die Shtetl sind aus dem Reich der Realität längst ins Reich der Mythen gewandert, resümieren die Autoren. Vom russischen Überfall ahnte noch keiner etwas. Bleibt die Hoffnung, dass Ortsnamen wie Dunajiwzi oder Husjatyn nie in den Kriegsnachrichten auftauchen.
Osteuropa nach dem Holocaust – Vom Verschwinden der Shtetl – Mo., 4.4., 23.35 Uhr, ARD