Amir, Ugly Duckling, Tristan und Isolde: In den Berliner Theatern geht es um die Grenzen der Identität
Schon interessant, wie am vergangenen Wochenende drei sehr verschiedene Premieren in drei verschiedenen Häusern unterschwellig doch eng verbunden schienen. Bezeichnend vielleicht auch, denn alle drei suchten Erlösungen, die mit kleinen Stellschrauben nicht mehr erreichen sind. Erlösungen in andere Identitäten, andere Leben, ja Welten.
Begnügen sich im Deutschen Theater noch sechs Drag Queens mit einer Überladung Glamour, um sich ins Wohlfühlland von Transidentitäten zu schminken, überzeugten die beiden anderen Produktionen − „Tristan und Isolde“ in den Sophiensaelen und „Amir“ im BE – damit, dass deren Erlösungssehnsüchte keineswegs nur Privatfantasien sind, sondern mit ganz realen politischen Verhältnissen kämpfen.
Staatlich geförderte Kriminalität
Am stärksten und in seiner Nüchternheit doch bilderreich zeigt das die Migranten-Geschichte „Amir“, die die Regisseurin Nicole Oder ins kleine Haus des Berliner Ensembles brachte. Man hätte es kaum erwartet, denn Mario Salazars Stück, das die vergeblichen Versuche eines Neuköllner Palästinensers beschreibt, in Deutschland heimisch zu werden, ist in seiner biedermeierlichen Klischeeverliebtheit deutlich daneben gegangen.
Dabei thematisiert es einen hoch brisanten, unhaltbaren Zustand hiesiger Aufenthaltsrechte, der einen gnadenlosen Blick verlangt. Denn obwohl Amir seit den Achtzigern in Neukölln lebt, werden er und seine aus dem Libanon geflüchteten Eltern bis jetzt nur „geduldet“, was heißt: Arbeitsverbot und damit Abdriften in Kriminalität.
Beste Arbeit aus dem BE-Autorenprogramm
Nicole Oder und ihr Team aus Burak Yigit, Tamer Arslan, Elwin Chalabianlou, Laura Balzer und Nora Quest haben dieser Grundkonstellation nun die nötige Schärfe verpasst und ein Spiel daraus gemacht, das nicht viel von Salazars Text übrig lässt, dafür aber die beste Arbeit ist, die bis jetzt aus dem „Autoren-Programm“ des BE hervor ging.
Eine Drehmauer teilt das Spielfeld in Amirs zwei Lebensmittelpunkte Knast und Boxbude, die sich endlos im Kreis drehen. Unentwegt versuchen Amir und seine zwei Brüder die Mauer wegzuschieben, doch treiben sie damit nur das Hamsterrad weiter. Immer wieder sitzt der knochige Burak Yigit schwer atmend, eingeknickt vor dem opaken Mauerweiß und redet ins Leere, auch wenn er mit seiner Freundin Hannah Pläne schmiedet. Es gibt kein Fortkommen; Erinnerungen werden zur Zukunft, und die guten Vorsätze wechseln direkt in schiefe Geschäfte. Für die wird jede Mauer per Live-Video durchlässig und Gewalt, auch gegen sich selbst, zum wichtigsten Mittel des Kontakts. „Amir“ ist ein düsteres, wichtiges Aufrüttlungsstück, das der menschenfeindlichen Seite dieses Wohlstandsystems Gestalt gibt.
Kosmetisches Selbst
Die Glamourseite feiert Regisseur Bastian Kraft mit seiner Drag-Show „Ugly Duckling“ (das hässliche Entlein) im Deutschen Theater. Es sind imposante Damen, die an diesem Abend an einem sechsseitigen Spiegeltisch sitzen und sich langsam, aber zielsicher in ihre Sehnsuchtsfiguren verwandeln. Auch ihr Spiegeltisch dreht sich unentwegt, nur hat das vor allem dekorative Funktion, um den jeweils Sprechenden mit seinem Spiegelgesicht zur Rampe zu drehen. Sie alle arbeiten an ihrem kosmetischen Selbst, das dem Publikum zugleich als biografische Selbstentfaltung erklärt wird.
Da ist zum Beispiel der Mann, der sich nun Judy La Divina nennt, bei seiner Ankunft in Berlin vor Jahren aber noch gar nichts göttlich an sich fand. Nun erzählt er von seiner Verlorenheit, die erst verschwand, als er die Drag-Kultur kennenlernte. Sich für eine Nacht in eine Göttin zu verwandeln, war für ihn eine Neugeburt. Heute nennt Judy „drag“ eine „Lebensrettung“ − für jeden.
Es rutscht der Schwan
Schön gesagt, und trotzdem wird diese Rettung nie dringlich an diesem semi-dokumentarischen Maskenreport zwischen Märchen und Show − neben Judy machen auch Gerome Castell und Jade Pearl Baker ihre Leidens- und Entfaltungsgeschichten zum Showact. Am ehesten funktioniert es noch, wenn die DT-Schauspieler Helmut Mooshammer, Regine Zimmermann und Caner Sunar ihre eher dilettantischen Drag-Fantasien zum Besten geben.
In ihrer androgynen Direktheit springt Zimmermann in die Bresche der in der Drag-Community herrschenden „Biofrauen“-Unterrepräsentanz. Und Helmut Mooshammer gehört der tragisch schönste, gebrochenste Moment: Am Ende steht er da in weiß glitzernder Robe, die über dem nackten Kunstbusen abrutscht, während auch die hohe Schwanenfigur auf der grünen Lockenperücke kaum Halt findet. Er ist nun ein Mischwesen aus dem „hässlichen Entlein“, das zum Schwan geworden ist, und der unglücklichen „kleinen Meerjungfrau“, deren aufopfernder Weltenwechsel vom Wasser aufs Land ihrer Liebessehnsucht auch nicht half: Die große Geste, die zu Schaum wird.
Viele Tristans und Isoldes
Schaum spielt auch in dem quirligen Verwandlungsdrama eine Rolle, das das Opernkollektiv Hauen & Stechen zusammen mit dem Inklusionstheater Hora in die Sophiensaele bringt − aber eine schneidend groteske. Seit 2012 machen sich Regisseurin Julia Lwowski und Co. daran, das große Opern-Repertoire historisch, kritisch, materialistisch durchzupflügen und sind mit „Tristan und Isolde“ nun bei der rauschhaftesten, immateriellsten aller Opern angekommen.
Zusammen mit den beiden beeindruckenden Opernsängern Vera Maria Kremers und Armands Silins haben sie aus der berühmten Liebesgeschichte, in der ein Zaubertrank zwei Hassende in zwei Liebende umpolt, ein groteskes, kritisch-leidenschaftliches Kunst- und Gesellschaftsdrama gebastelt.
Ein dichter, froher Abend
Ein Käfig hier, eine Waschmaschine dort und ein Wal in der Bühnenmitte schieben die Handlung zwischen Bewusstseinsschärfung und -auflösung aus der Liebesecke heraus ins Gesellschaftliche. Tristans und Isoldes gibt es hier mindestens elf, die Vieles thematisieren: Männermacht und Frauenwut, Wagners Antisemitismus und die rechtsnationale „wutbürgerliche“ Gefühlsspolitik heute. Dafür wird die Oper zerteilt und verdreht: Tristan singt Isolde, Isolde Tristan, auch Isoldes Mutter und Cosima Wagner treten ungefragt auf, und Rammstein fehlen auch nicht.
Dennoch bleiben Handlung und die Schlüsselmomente der Wagner’schen Musik wundersam intakt: zuerst orchestral eingespielt übernimmt ein Klavier auf der Bühne die Motive, was am schönsten wird, wenn mit Tristan bald ein großer Wal als gestrandeter Ideenkoloss herbeigezogen wird. Ein Hilfe suchender und Schutz bringender Riese, eine geschundene Natur und Masse gewordene Sehnsucht nach Glück und Schwerelosigkeit. Die Sänger singen, die Horas krächzen, und genau daraus entsteht ein dichter, froher Abend, in dem Leben und Kunst sich gegenseitig vergrößern.
Amir, 29.4.; 4., 5., 11.,12.5., 20 Uhr, Berliner Ensemble (Kleines Haus), Tel: 28408155
Ugly Duckling, 30.4., 7., 21., 28. 5., Deutsches Theater (Kammerspiele), Tel: 28441225
Tristan und Isolde, bis 30.4., jeweils 19.30 Uhr, Sophiensaele, Tel: 2835266