Michael Rothberg zur Documenta: „Antisemitismus als Bumerangeffekt“
Der Documenta-Skandal lässt nicht nach. Doch meist wird oberflächlich diskutiert. Dabei bietet die Debatte viele Ansätze für eine komplexere Betrachtung.

Der Antisemitismus-Skandal auf der Documenta 15 in Kassel schlägt in Deutschland seit Wochen extrem hohe Wellen. Inzwischen beschäftigt er selbst den deutschen Bundestag. Die CDU/CSU-Fraktion will nun sogar eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzen.
Da ich persönlich bislang keine Gelegenheit hatte, die Documenta zu besuchen, konnte ich mir „People’s Justice“, das umstrittene Kunstwerk des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das zur Eröffnung der Documenta 15 enthüllt und nach einem Proteststurm sofort wieder abgebaut wurde, nicht persönlich ansehen. Auf dem riesigen, 20 Jahre alten Jahre Banner befanden sich zwei Bilder, die viele Beobachter als antisemitisch ansahen: eine militärische Figur mit Davidstern auf dem Schal und dem Schriftzug „Mossad“ am Helm sowie eine monströse Karikatur eines orthodoxen Juden mit dem Schriftzug „SS“ am Hut.
Die Documenta, Ruangrupa und das palästinensische Kollektiv The Question of Funding waren bereits in den Vormonaten wegen Antisemitismus-Vorwürfen in die Kritik geraten. Diese Vorwürfe betrafen vor allem die Nähe zur BDS-Bewegung, welche in einem folgenreichen, wenngleich nicht rechtsverbindlichen Beschluss des Bundestages 2019 als antisemitisch eingestuft wurde – sowie die Verbindung mit einem Kulturzentrum in Ramallah, das nach dem 1953 verstorbenen palästinensischen Dichter und Gelehrten Khalil Sakakini benannt ist. Obwohl die Quelle der Anschuldigungen angesichts ihrer parteiischen Pro-Israel-Position selbst Verdacht erregen hätte müssen, wurde sie von Journalisten der Zeit, der Welt und anderer Zeitungen als legitim angesehen.
Anfangs ging es fast ausschließlich um Palästina
Die Anschuldigungen im Vorfeld der Eröffnung drehten sich somit fast ausschließlich um Fragen palästinensischen Widerstands. Auch nach Eröffnung der Documenta wurden Werke mit Palästina-Bezug unter die Lupe genommen – darunter etwa Mohammed Al Hawajris Gemälde „Guernica Gaza“.
Dies, obwohl die dramatische „Bestätigung“ des Antisemitismus-Verdachts in Form von „People’s Justice“ mit Palästina nichts zu tun hatte. Dennoch eskalierte das Klima der Anschuldigungen schnell. Man forderte den Rücktritt von Schlüsselfiguren der Documenta und der Kulturstaatsministerin, die Streichung von Geldern sowie die Einführung staatlicher Kontrollen der Kunst. Unterdessen fühlten diejenigen, die die Documenta und Ruangrupa verteidigt hatten, sich verständlicherweise verraten.
Befürworter:innen von Ruangrupa taten sich schwer damit, auf die Kehrtwende der Ereignisse zu reagieren: Sie verurteilten den faktischen Antisemitismus, versuchten aber auch, die Stigmatisierung der Ausstellung als Ganzer zu verhindern, welche Werke von rund 1500 Künstler:innen aus aller Welt zeigt. Bereits jetzt ist klar, dass die Auswirkungen der Kontroverse für die Kunstwelt und die Öffentlichkeit in Deutschland drastisch und langwierig sein werden.
Gewissheiten über Rassismus und Antisemitismus verlernen
Mir geht es hier nicht darum, die Documenta, Ruangrupa oder Taring Padi pauschal zu verteidigen oder anzugreifen. Sondern den Anlass zu nutzen, um zu einer anderen Diskussion beizutragen. Ich frage mich, welche Möglichkeiten noch bestehen, die in den letzten Monaten – und in den letzten sehr turbulenten Wochen – aufgeworfenen Fragen zu Antisemitismus, Kunst, Israel und öffentlichem Raum anzusprechen.
Was kann noch gesagt werden? Nicht in der Lage zu sein, endgültige Aussagen über den spezifischen Fall zu treffen, hindert uns nicht daran, darüber nachzudenken, was passiert ist. Gerade weil es momentan nicht die eine „richtige“ Antwort auf den Documenta-Skandal gibt, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, einen neuartigen Dialog über Kunst, Antisemitismus und Israel im deutschen Kontext anzustoßen. In diesem Dialog könnte sich zudem eine Gelegenheit eröffnen, zu verlernen, was wir bislang als Gewissheiten erachteten. Dieser Prozess des Verlernens könnte uns erkennen lassen, wie sehr die Geschichten von Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus und Völkermord miteinander verwoben sind – oft auf unerwartete und sehr widersprüchliche Weise.

Worin besteht der Antisemitismus?
Im Mittelpunkt der Kontroverse um Taring Padi steht die Frage, was eine Darstellung antisemitisch macht. Meine Kommentare hierzu sind vorläufiger Natur, da sie auf einer nur partiellen Betrachtung beruhen, anhand Fotos, die auf Social Media kursierten. Das Banner als Ganzes umfasst verschiedene Abschnitte: Rechts eine idealisierte, pastorale Darstellung von Globalisierungsgegnern. In der Mitte, unter einem Tribunal von „Volksrichtern“, eine nüchterne Schwarz-Weiß-Darstellung der Gewalt in Indonesien von 1965. Und links, wo sich die beiden „jüdischen“ Bilder befinden, verschiedene Kräfte moderner Gewalt und Ausbeutung – inklusive Suharto selbst, der von einer Art Thron in der oberen linken Ecke herabschaut.
Zunächst können wir feststellen, dass sich die meisten Diskussionen angesichts der Vielzahl der in „People’s Justice“ gezeigten Bilder auf die zwei „jüdischen“ konzentrierten. Die beiden Bilder unterscheiden sich deutlich. Das eine scheint sich direkt auf antisemitische Stereotypen zu berufen (der orthodoxe Mann mit Reißzähnen, Schläfenlocken und Zigarre; der Verweis auf Juden als Nazis). Das andere tut dies nicht, obwohl es zwei mit Judentum assoziierte Symbole enthält: den Davidstern und das Wort „Mossad“. Der Stern hat hier einen zweideutigen Bezug: Während er klar mit der jüdischen Identität verbunden ist, ist er zugleich auch ein Symbol für Israel – eine Assoziation, die durch den Verweis auf den Mossad bestätigt wird.
Figuren von Westmächten und Antisemitismus
Die Mossad-Figur gehört eindeutig zu einer Reihe fast identischer militärischer Figuren mit verzerrten Gesichtern und Uniformen. Der Hauptunterschied liegt in der Aufschrift: anstelle von „Mossad“ tragen die anderen Figuren Aufschriften wie „007“, „KGB“, „Intel“ und dergleichen. Die Mossad-Figur in dieser Serie scheint somit wenig damit zu tun zu haben, eine jüdische Figur „gesondert“ hervorzuheben. Die Serie wirkt vielmehr wie ein Kommentar zu Geheimdienstoperationen westlicher Staaten in Indonesien.
In Anbetracht des Werks, das Taring Padi als Reaktion auf das drei Jahrzehnte andauernde Militärregime in Indonesien und die Weise, wie es von westlichen Mächten gestützt wurde, beschreibt, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass das Bild Israel meint, nicht „die Juden“. Und dass Israel eben nicht als hervorgehobene Ausnahme behandelt wird, sondern als Teil einer Gruppe von Mächten.
Die Verortung der „SS“-Figur im größeren Kontext des Banners ist ebenfalls aufschlussreich: Die stereotype jüdische Figur steht in einer Reihe mit monströsen und kaum als menschlich zu entziffernden Kreaturen. Ihre Positionierung neben dämonischen, zombieähnlichen Kreaturen mit ähnlichen Reißzähnen verstärkt den antisemitischen Tenor des Bildes. Auch wenn nicht klar ist, ob „der Jude“ hier als besondere Form des Bösen isoliert – oder vielmehr als Teil einer Kohorte gezeigt wird.

Doch selbst wenn die jüdische Figur nicht herausgegriffen wird, unterscheidet sich der Kontext doch stark vom Mossad-Bild und läuft in der Besonderheit seiner Merkmale auf eine virulente antisemitische Darstellung hinaus. Nach dem Skandal veröffentlichte Taring Padi eine Erklärung, in der es hieß, das Werk versuche, „die komplexen historischen Umstände [des Suharto-Regimes] durch eine Bildsprache zu erfassen, die gleichzeitig so verstörend ist wie die Realität der Gewalt selbst“. Der Einsatz des antisemitischen Bilds untergräbt die Bemühungen der Gruppe. Wie Eyal Weizman auf der Berlin Biennale sagte – und wie auch der Antisemitismusforscher Michael Höttemann in seiner Analyse argumentierte –, verwendet das Banner Stereotypen, um schwer greifbare Kräfte zu vereinfachen und ihnen eine Form zu geben: eine klassische antisemitische Reduktion.
Symbole des Bösen aus dem javanischen Schattenspiel
Dennoch fragt sich: Welche Repertoires antisemitischer Bilder sind in das Werk eingeflossen? Und wie? Es gibt offenbar deutliche Bezüge zu einer europäischen, antisemitischen Tradition – und auch einen direkten Bezug zum Nationalsozialismus. Es wirkt wahrscheinlich, dass sich dieses Bildrepertoire hier mit lokalen Quellen überschneidet. Ein Kollege, der Historiker für Indonesien ist, bemerkte, dass gezackte Zähne, rote Augen und Schweinegesichter in Indonesien allgemein als Symbole des Bösen gelten, Symbole, die aus dem javanischen Schattenspiel stammen, das dem Nationalsozialismus um Jahrhunderte vorausgeht.
Das beunruhigendste der Bilder, die hier zur Diskussion stehen, scheint also eine Mischung aus importierten europäischen und „heimischen“ Bildsprachen darzustellen. Dies würde die antisemitischen Dimensionen des Bildes nicht „relativieren“, jedoch neue Fragen darüber aufwerfen, was so eine synkretistische Form über den antisemitischen Ausdruck des Banners sowie über den indonesischen Kontext aussagen könnte.
Auch erwähnenswert wäre, dass das Transparent andere Bildrepertoires enthält, die von der Rezeption bislang nicht skandalisiert worden sind. So findet sich etwa direkt unter der „SS“-Figur auch die rassistische Darstellung eines animalisch dargestellten schwarzen US-Soldaten, der seinen großen Penis in der Hand hält und auf die Gräber derer uriniert (oder ejakuliert), die von den USA als „Terroristen“ stigmatisiert wurden.
Der offensichtliche antischwarze Rassismus stand bei der Documenta-Kontroverse bislang nicht im Vordergrund, tatsächlich wurde er so gut wie gar nicht diskutiert. Dabei wirkt es wie ein weiteres Beispiel dafür, wie rassistische Bildsprachen konvergieren. Betrachten wir die vielen verstörenden Bilder des Banners, kommen wir nicht um die Schlussfolgerung herum, dass Taring Padi bewusst mit grotesken Stereotypen arbeitet. Das gibt ihnen sicherlich keinen Freifahrtschein für Antisemitismus oder Rassismus. Aber es zeigt, wie wichtig es ist, die Bilder in der Sprache des Werks zu verorten.

„People’s Justice“ ist ein Versuch, politische Gewalt zu verarbeiten
„People’s Justice“ ist ein Werk, das sich der Geschichte und dem Erbe von Massengewalt widmet. Ich sehe das Werk darüber hinaus als den fehlerhaften Versuch, eine Geschichte extremer politischer Gewalt zu verhandeln, die sich in Indonesien entfaltet hat. Sowie eine Weltordnung, die weiter menschliche sowie ökologische Katastrophen produziert.
Das Banner ist weit davon entfernt, „die Juden“ als treibende Kraft jener Ereignisse herauszustellen. Es verweist auf Unternehmen, Nationalstaaten, auf die Warenproduktion und internationale Institutionen wie die Weltbank, die es für die Gewalt jener Zeit als ursächlich zeichnet. Was das „SS“-Bild mit dem des schwarzen Soldaten gemeinsam hat, ist, dass beide rassistische Codes verwenden, um komplexe Fragen von Kausalität und politischer Verantwortung sichtbar zu machen.
Doch eine rein formale Lesart jener Bilder reicht letztlich nicht aus, um „People’s Justice“ zu verstehen. Die Bilder verweisen auch auf globale politische und kulturelle Zusammenhänge. Ein Ansatz, das Rätsel der synkretistischen Form der antisemitischen Ikonographie des „SS“-Bildes zu lösen, wäre etwa, die Verbreitung des europäischen Antisemitismus in Südostasien zu untersuchen.
Deutsche Nazis hatten Einfluss in Indonesien
Der verstorbene Historiker Jeffrey Hadler – auf den mich der australische Genozid-Forscher Dirk Moses aufmerksam machte – argumentiert etwa, dass der „Antisemitismus, dem man [in Indonesien] begegnet, ausschließlich europäischen Ursprungs ist und in der Kolonialzeit und während der japanischen Besatzung nach Indonesien gebracht wurde“. Wie Hadler und andere feststellen, hatte jene Kolonialgeschichte eine Mischung aus antijüdischem und antichinesischem Rassismus zur Folge. Noch unmittelbarer für die Documenta-Debatte relevant ist auch ein direkter deutscher Bezug: Hadler verweist etwa auf die aktive Präsenz deutscher Nazis in Indonesien in den 1930er-Jahren sowie auf die Unterstützung, die sie von niederländischen Kolonialisten erhielten.
Die 1934 in Indonesien gegründete Nazipartei leitete ihm zufolge sogar „Plantagengelder an pronazistische Organisationen in den Niederlanden weiter“. Während der japanischen Besetzung Indonesiens im Zweiten Weltkrieg war die Gestapo „entrüstet“, als sie erfuhr, dass Juden nicht zusammen mit anderen „Ausländern“ inhaftiert worden waren, und befahl „die sofortige Verhaftung aller Juden“. Der indonesische Fall bietet somit einen reichhaltigen und kritischen Kontext, um über die Überschneidungen von Holocaust und Kolonialismus nachzudenken.
Im Kontext der Documenta-Kontroverse könnte ein Nachdenken über eine solche Geschichtsschreibung auch die verkürzten Binsenweisheiten des deutschen Diskurses über Antisemitismus – nämlich dass es sich um ein Problem von Muslimen handele – verkomplizieren. Sie könnte dazu beitragen, die Diskussion reflexiver werden zu lassen.
Antisemitismus wird auf Muslime abgewälzt
Die Abwälzung des Antisemitismus auf Muslime machte schon im Vorfeld der Documenta 15 den Großteil des Diskurses um sie aus: Ruangrupa wirkten verdächtig, weil sie aus einem muslimischen Land stammen. Ohne die Realität des Antisemitismus in muslimischen Kontexten, auch in Indonesien, leugnen zu wollen, sollten die synkretistischen Hintergründe der antisemitischen Bilder bedacht werden. Sowie die Geschichte kulturpolitischen Austauschs zwischen Europa und Südostasien, die sie erzählen. Die verhandelten Bilder könnten zu einer multidirektionalen Betrachtung sich überschneidender kolonialer, ethnischer und religiöser Ideologien anregen.
Wie Eyal Weizman sagte: Die Präsenz dieses Bildes auf der Documenta 15 veranschaulicht eine Art „Bumerangeffekt“, bei dem ein in Europa entwickeltes Paradigma in einer europäischen Kolonie zirkuliert und dann – in veränderter Form – nach Europa zurückkehrt. Die Bumerang-Metapher lässt auch an Arbeiten von Hannah Arendt und Aimé Césaire denken, die zu beschreiben versuchten, wie die NS-Gewalt selbst eine Rückkehr rassistischer Weltanschauungen und Gewaltformen darstellt, die Europäer in den Kolonien entwickelt oder vormals dorthin exportiert hatten.
Es bleibt die Frage, warum das antisemitische Bild auf dem Banner auftauchte. Hier müssen andere Kontexte berücksichtigt werden. Das Mossad-Bild bietet dafür einen guten Ausgangspunkt. Wie das Magazin +972 im Jahr 2019 auf Grundlage kürzlich freigegebener israelischer Dokumente berichtete, unterhielt der Mossad langjährige Verbindungen zu Suhartos Militärregime, das 1967 bis 1998 in Indonesien regierte.
Der Mossad hatte Verbindungen zu Suharto
Obwohl der Mossad wusste, dass Suharto für die Vernichtung von mehreren Hunderttausend Indonesier:innen, die als „Kommunisten“ beschuldigt wurden, verantwortlich war, zögerte er nicht, mit dem neuen Regime zusammenzuarbeiten. Der Hinweis auf den Mossad sollte also kaum schockieren. Dies heißt nicht, dass das Mossad-Bild nicht immer noch antisemitisch sein könnte. Doch die Darstellung anderer Geheimdienste deutet darauf hin, dass das „Mossad“-Bild nicht in antisemitische Verunglimpfung abgleitet, sondern innerhalb einer „akzeptablen“ Grenze politischer Satire bleibt.
Ich will hier keine endgültige Analyse des Banners von Taring Padi liefern, sondern mögliche Wege für eine reichhaltigere Diskussion aufzeigen. Nirgends ist eine solche Diskussion nötiger als in Deutschland. Wie ein Kolumnist der New York Times in seiner – weitgehend positiven – Rezension der Documenta 15 feststellte, können Deutschlands Holocaust-Scham und die „stark proisraelische Position“, die sich daraus ergibt, legitime palästinensische Perspektiven verdecken.
Zudem können Diskussionen über Antisemitismus und dessen Verbindung zu Kolonialismus und anderen Formen von Rassismus dadurch verzerrt werden. Verbindungen, die – wie wir schon gesehen haben – auch in Taring Padis Banner Spuren hinterlassen haben.

Über den deutschen Kontext hinausdenken lernen
Der deutsche Kontext ist sicher nicht der „ultimative“ Kontext der Documenta-Kontroverse. Dennoch aber ist der zeitgenössische deutsche Kontext unvermeidlich für diese Diskussion. Dazu gehört natürlich auch eine gesteigerte Sensibilität gegenüber Antisemitismus, die die Bundesrepublik nach 1945 kennzeichnet: Die Zurschaustellung antisemitischer Bilder sollte überall ein Problem sein. Doch es wäre absurd, zu behaupten, dass sie in Deutschland keine besondere Brisanz hat.
Die Bekräftigung einer „besonderen“ deutschen Sensibilität gegenüber Antisemitismus wäre als Antwort auf die Documenta-Kontroverse unzureichend. Zum einen würde sie die Ironie übersehen, dass der BGH jüngst entschied, dass eine mittelalterliche antisemitische Skulptur – die sogenannte „Judensau“ in Wittenberg – nicht entfernt werden darf. Oder dass die Documenta in ihren Anfangsjahren von vielen ehemaligen Nazis organisiert wurde, wie das DHM erst vor wenigen Monaten enthüllte.
Deutschland sollte diese Diskussion nicht ausschließlich an seinen selbst gesetzten diskursiven Grenzen führen – oder so tun, als sei Antisemitismus nur ein Problem der „anderen“. Natürlich können sich auch indonesische Kollektive nicht immun gegenüber deutschen Befindlichkeiten zeigen. Dies war eine Position, die in einigen der ersten Reaktionen seitens der Documenta und Ruangrupas zwar angedeutet, letztlich aber zu Recht aufgegeben wurde.
Deutschlands „Antisemitismus“-Hüter
Bislang nutzten Deutschlands „Antisemitismus“-Hüter ein beunruhigendes Bild in einem 20 Jahre alten politischen Kunstwerk, das in einem radikal anderen Kontext entstanden ist, dazu, den Vorwurf zu instrumentalisieren und ihre eigenen Vorurteile über den sogenannten globalen Süden und „den Postkolonialismus“ – wohl eines der vagsten und verzerrtesten Epitheta im heutigen Deutschland – zu bestätigen.
Für eine kritische, aber vorsichtige Analyse von „People’s Justice“ sollte die deutsche Öffentlichkeit anfangen, eine ehrliche und offene Diskussion über Themen zu führen, die uns alle betreffen: über Antisemitismus und Rassismus, über Kunst und Propaganda, über Kolonialismus und Völkermord, über Israel und Palästina.
Wer den historischen Spuren folgt, dem offenbart die Kontroverse um „People’s Justice“ eine Welt, die weitaus durchlässiger und vernetzter ist, als deutsche Kommentatoren das bisweilen behaupten oder glauben wollen. Für mich deutet der Fall Taring Padi darauf hin, dass wir unsere Gewissheit, unsere moralische Überlegenheit und unsere vermeintliche Unschuld ablegen müssen. Nur so können wir die Geschichten, die uns in eine größere Dynamik von race, Antisemitismus, Kolonialismus und Völkermord verwickeln, neu lesen lernen. Geschichten, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.
Aus dem Englischen von Hanno Hauenstein.