Antisemitismus auf der Documenta 15: Was für eine Katastrophe!

Nach Kritik am antisemitischen Kunstwerk äußert sich erstmals das Kuratorenkollektiv ruangrupa. Von gemeinschaftlichem Versagen ist die Rede. Eine ernst zu nehmende Entschuldigung, meint unser Autor.

Am Tag nach dem Abhängen des umstrittenen Großbanners steht auf dem Friedrichsplatz nur noch ein leeres Gerüst. Foto: Uwe Zucchi/dpa
Am Tag nach dem Abhängen des umstrittenen Großbanners steht auf dem Friedrichsplatz nur noch ein leeres Gerüst. Foto: Uwe Zucchi/dpadpa

Was für eine Katastrophe: Auf der Documenta 15 in Kassel – auf der zum Eröffnungswochenende enthüllten, meterhohen Banner-Installation „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi – tauchten jetzt tatsächlich antisemitische Bilder auf. Das Werk zeigt einen Soldaten mit Schweinsgesicht und Davidstern, der einen Helm mit der Aufschrift „Mossad“ trägt. Das Kunstwerk ist keine bloß verkürzte Kapitalismuskritik mit bloß europäischen Augen antisemitisch anmutenden Motiven. Nein, hier findet sich etwa auch eine regelrecht Stürmer’eske Abbildung eines Juden als monströs entstellte Figur.

Es wäre eine in vielerlei Hinsicht vermeidbare Katastrophe gewesen. Immerhin hatten das Kuratorinnen-Kollektiv ruangrupa, die Leitung der Documenta sowie das Forum, das die gescheiterte „We Need to Talk“ Gesprächsreihe organisierte, sich über Monate mit den Vorwürfen von vermeintlichem Antisemitismus im Rahmen der Kunstschau und ihrer Kollektive auseinandergesetzt.

Die Vorwürfe hatten einer kritischen Prüfung nicht standgehalten. Ihre ideologischen Konturen ließen sich relativ leicht herausarbeiten. Es waren Vorwürfe, die letztlich wie ein großer, xenophober Generalverdacht gegenüber Künstlerinnen des „globalen Südens“ wirkten und denen – so hofften einige – spätestens dann der Wind aus den Segeln genommen würde, wenn die Ausstellung eröffnet und eine echte Auseinandersetzung mit ihren künstlerischen Inhalten stattfinden würde, anstatt mit politischen Positionen zu Israel/Palästina oder der oftmals (fälschlicherweise) als per se antisemitisch verschrienen Boykott-Bewegung BDS. Das Gegenteil ist jetzt passiert.

Ruangrupa liefert ernst zu nehmende Entschuldigung

Nach Tagen öffentlichen Drucks, in denen sich jüdische wie nicht-jüdische Vertreterinnen in Deutschland schockiert zeigten, und wo selbst Rücktrittsforderungen laut wurden, die von der Documenta-Leiterin Sabine Schormann bis hin zu Kulturstaatsministerin Claudia Roth reichten, hat das verantwortliche Kollektiv ruangrupa sich nun ausdrücklich auf der documenta-Homepage entschuldigt: „Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Scham, die Frustration, den Verrat und den Schock, den dieses Stereotyp bei den Zuschauern und dem gesamten Team [...] ausgelöst hat“, heißt es über die antisemitischen Motive in „People’s Justice“.

Man erkenne den Schmerz und die Angst derer an, die die Figur gesehen haben, „sei es persönlich auf der Documenta 15 oder durch verschiedene Medien, die über diese Geschichte berichtet haben.“ Am Sonntag und in den Folgetagen waren Bildausschnitte der Motive – insbesondere auf Twitter – verbreitet worden, teils ohne die wünschenswerte, kritische Distanz.

„Wie wir jetzt vollständig verstehen, knüpft diese Bildsprache nahtlos an die schrecklichste Episode deutscher Geschichte an, in der jüdische Menschen in beispiellosem Ausmaß angegriffen und ermordet wurden“, schrieb das Kollektiv über das Werk. „Wir nutzen diese Gelegenheit, um uns über die grausame Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus weiterzubilden und sind schockiert, dass diese Figur es in das fragliche Werk geschafft hat.“ Wenngleich der Schock des Kollektivs vor dem Hintergrund der letzten Monate nicht leicht nachzuvollziehen ist: Die Entschuldigung wirkt aufrichtig.

ruangrupa betonte zudem den qualitativen Unterschied des nun entdeckten Antisemitismus gegenüber den Vorwürfen von vermeintlichem Antisemitismus der letzten Monate – etwa der Vorwürfe, die gegenüber dem palästinensischen Kollektiv The Question of Funding erhoben worden waren. Man erkenne, heißt es explizit in dem Text, auch die Gefühle derer an, die „uns in den letzten sechs Monaten gegen unbegründete Anschuldigungen und Verleumdungen verteidigt haben.“ Trotz aller Widrigkeiten erklären ruangrupa, in Kassel bleiben und weiter lernen zu wollen. „Wir möchten auch weiterhin mit der Öffentlichkeit, den Besuchern und den lokalen Initiativen, denen unser Werk zusagt, im Gespräch bleiben.“

Falsche und faktische Antisemitismus-Vorwürfe

Die Debatte, die in den letzten Monaten geführt wurde, war – so frustrierend sie bisweilen wirkte – auch eine Chance: eine Chance, historische und von den Betroffenen teils real erlebte Ähnlichkeiten zwischen rassistischer und antisemitischer Menschenfeindlichkeit herauszuarbeiten. Eine Chance, demgegenüber zu zeigen, wie oft das Sprechen über Antisemitismus in Deutschland in ein künstliches Konkurrenzverhältnis gegenüber vermeintlich ‚Anderen‘ abdriftet: etwa indem der Vorwurf des Antisemitismus auf Schwarze, muslimische und palästinensische Minderheiten abgewälzt wird – ganz so, als wäre die deutsche Mehrheitsgesellschaft (von deutscher Kunst ganz zu schweigen) von Antisemitismus frei. Ist sie nicht.

Es war auch eine Chance, anders über Erinnerungskultur nachzudenken. Etwa über die mannigfaltigen Versuche von Wissenschaftlerinnen wie Mirjam Brusius, Zoé Samudzi, Susan Neiman, Michael Rothberg und anderer, die in Publikationen und Konferenzen in den letzten zwei Jahren dazu beitrugen, die Erinnerungen an Holocaust und an Kolonialismus wechselseitig zu vertiefen – und somit den Anforderungen einer sich pluralisierenden deutschen Gesellschaft nachzukommen. Sowie einer längst überfälligen, symbolischen wie materiellen Rechenschaft gegenüber den deutschen Kolonialverbrechen.  Und dem gestiegenen Bewusstsein für Alltagsrassismus Post-Black-Lives-Matter, auch in Deutschland.

Die Mär vom bösen Postkolonialismus

Dass Boris Pofalla die auf der Documenta entdeckte antisemitische Bildsprache in der Tageszeitung Die Welt sofort mit vermeintlich illegitimem, pro-palästinensischen Aktivismus verrührte, oder mit der jüngst im Haus der Kulturen der Welt abgehaltenen „Hijacking Memory“ Konferenz, wo internationale jüdische wie nicht-jüdische Journalistinnen und Historiker auf für deutsche Verhältnisse erfrischende Weise über die Instrumentalisierung von Erinnerung debattierten, wirkt generalisierend und tendenziös.

Claudius Seidl wiederum unterstellte gleich dem gesamten postkolonialen Denken – was das genau sein soll, wird in seinem FAZ-Beitrag letztlich nicht deutlich – ein „problematisches Verhältnis zum Holocaust, zu den Juden im Allgemeinen und zum Staat Israel“. Letzteres sei nicht weniger als „eine seiner Grundlagen [des Postkolonialismus]“. Seidls Lesart ist nicht nur falsch – sie ließe sich etwa durch eine oberflächliche Lektüre jüdischer und „postkolonialer“ Denker wie Jacques Derrida und Albert Memmi entkräften – sie ist im Kontext der jetzigen Vorfälle auch regelrecht zynisch. Woher, fragt man sich, kommt jenes Begehren, vermeintlich unversöhnliche Gräben noch weiter aufzureißen und minoritäre Positionen gegeneinander auszuspielen? Was hier spricht, ist alte deutsche Nullsummenmentalität.

Es wird sicher Monate, wenn nicht gar Jahre dauern, die jetzt entstandenen Scherben aufzusammeln und den Schaden, der durch die Fahrlässigkeit der Documenta-Leitung – aber auch durch die teils ignorante Grundhaltung so mancher deutscher Kommentatoren  – angerichtet worden ist, zu reparieren.