Markante Parallelen zum Heute: ARD und ZDF blicken auf das „Schicksalsjahr“ 1983
Im Westen sang Nena von „99 Luftballons“, im Osten wurde unser Autor zum Wehrdienst eingezogen. Viel von damals erinnert ihn an die Gegenwart.

Der Hit des Jahres 1983 ist immer noch ein Hit, die pazifistische Botschaft aktueller denn je. Nenas „99 Luftballons“ wurde auf Spotify 336 Millionen Mal abgerufen, traf im Frühjahr 1983 den Zeitgeist wie kein anderer und sorgte sogar international für Furore. Wie fantasievoll die Band mit einer Zerstörung der Welt aus Versehen spielte, das ging auch musikalisch weit über die damals heftig wogende Neue Deutsche Welle hinaus.
ARD und ZDF widmen sich dieser Tage dem „Schicksalsjahr“ 1983. Die ARD-Doku „1983 – Geschichte wird gemacht“, benannt nach dem Fehlfarben-Hit aus dem Jahr 1982, zeigt viele Parallelen zu 2023 auf. Die „Angst vor dem großen Knall“ habe das Gefühl einer Generation bestimmt. Dazu passten selbst die hedonistischen Botschaften der NDW-Bands nach dem Motto „Ich will Spaß – ich geb Gas“. In Interviews von damals betonen Jugendliche das Gefühl: Amüsieren um jeden Preis – denn morgen kann schon alles vorbei sein.
Die ARD-Doku erinnert daran, wie massenhaft sich damals die westdeutsche Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss mit der Stationierung von Atomraketen auf dem Gebiet der BRD wandte. Große Demonstrationen forderten auch mehr Klimaschutz: Besorgte Aktivisten legten sich auf die Straße (allerdings ohne sich anzukleben). Damals galten der saure Regen und das Waldsterben als die größten Gefahren. Auch andere Probleme des Jahres 1983 klingen aktuell – so die Angst vor einer Seuche, damals war es Aids. Selbst die Energieknappheit und die neuen Medien waren Mega-Themen: Vor 40 Jahren kam der Computer C64 auf den Markt, der Bildschirmtext startete, selbst mit Videokonferenzen wurde schon experimentiert. Die NDW-Hits von Nena, Trio, Ideal, Extrabreit, Geiersturzflug und Co. bildeten den passenden Soundtrack. Peter Schilling prophezeite im heißen Sommer 1983 mit dem Titel „Die Wüste lebt“ eine waschechte Öko-Katastrophe und die blutjungen Ärzte gewannen den Berliner Senatsrockwettbwerb.
Auch in der DDR war die Angst vor einem Atomkrieg groß
Die DDR kommt in dieser vom WDR bestellten Doku nur ganz am Rande vor, besteht optisch aus Mauer, Stacheldraht, Erich Honecker und FDJ-Blauhemden. Erstaunlich oder bezeichnend, dass ein Werk mit einem solch eingeschränkten Fokus immer noch von der ARD verbreitet wird. Dabei sitzt die Produktionsfirma Kobalt in Berlin-Mitte, Chefin Tita von Hardenberg spricht den Text. Nur der Auftritt von Udo Lindenberg im Palast der Republik spielt hier eine Rolle.
In jenem September 1983 begann ich nach dem Abitur mein Volontariat und diskutierte mit den Redakteuren der Magdeburger „Volksstimme“ lebhaft über den Auftritt von Udo – und erlebte dazu, welche propagandistischen Volten die SED-Zeitungen drehen mussten, um den Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine durch sowjetische Kampfflugzeuge zu erklären – eine weitere beängstigende Parallele zur Gegenwart. Auch in der DDR war die Sorge vor einen Atomkrieg sehr verbreitet. Im Freundeskreis kursierten die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“, meine Kadersekretärin bescheinigte mir pazifistische Tendenzen, weil ich hilflos argumentierte, gegen den Atomkrieg würden auch drei Jahre NVA nichts bewirken. Das prägendste Erlebnis war die Einberufung zur „Fahne“ Anfang November 1983, mitten in der politisch aufgeheizten Atmosphäre. Drei Wochen später beschloss der Bundestag die Stationierung amerikanischer Raketen und die Worte unseres Kompaniechefs hallen mir bis heute in den Ohren: „Der Imperialismus hat endgültig sein liberales Mäntelchen abgeworfen!“ Später drehte Leander Haussmann in der Kaserne seine „NVA“-Klamotte. Nena und die quietschbunte NDW waren damals nicht unbedingt meine Favoriten – uns zogen live düstere Blues-Kapellen wie Monokel und rockige Bands wie Pankow an. Auf den Radios in der Kaserne waren die Ost-Sender markiert – Westradio strikt verboten.
André Herzberg und Jürgen Ehle von Pankow werden in der dreiteiligen Dokureihe „Neue Deutsche Welle“ bei ZDFinfo interviewt – obwohl sie da eigentlich nicht reinpassten. Auch Jana Schlosser, die Sängerin der Ost-Berliner Punkband Namenlos, war viel härter drauf und kam wegen ihrer provokanten Zeilen 16 Monate lang ins Gefängnis. Die Autorinnen Katja Herr und Heike Sittner stammen aus dem Osten und spüren hier der Musik der Jugend nach. In den drei Folgen werden die Pioniere, der Hype anno 1983 und der Overkill des NDW gezeigt – und viele Musiker und Macher von einst kommen vor die Kamera und blicken lässig-gelassen auf die Zeit zurück, etwa Kai Hawaii von Extrabreit, Friedel Geratsch von Geier Sturzflug, Marion Sprawe von Juckreiz, Peter Hein von den Fehlfarben, Joachim Witt, Reinhold Heil und Uwe Fahrenkrog-Petersen, der die Hits für Nena komponierte. Nena-Manager Jim Rakete erklärt hier, wie eigentlich die Idee zum Stück entstand – als bei einem Auftritt der Rolling Stones in der Waldbühne Luftballons Richtung Mauer flogen. In der DDR erschienen zwar zwei Singles und ein Album von Nena. Der größte Hit „99 Luftballons“ aber war nicht dabei, das Stück flog nur mit den Radiowellen über die Mauer.
1983 – Geschichte wird gemacht. Montag, 27. März, 23.35 Uhr, ARD
Neue Deutsche Welle. 3 Folgen, ab Sonntag, 26. März, in der ZDF Mediathek, am Ostersonntag, 9. April, 20.15 Uhr bei ZDFinfo