„Aufzeichnungen aus Jerusalem“: Israel im Comic verstehen

Berlin - Der Kanadier Guy Delisle ist wohl das, was man einen Comic-Zeichner nennen kann. Jedenfalls hat er eine Reihe von „ordentlich erzählten“ und „sauber gezeichneten“ Geschichten vorgelegt, die allesamt die genretypischen Kriterien in idealer Weise erfüllen. Dazu gehören nicht nur die frühen Arbeiten wie etwa „Réflexion“ (1996) oder „Aline et les autres“ (1999), sondern gewiss auch aktuellere wie die in Frankreich sehr beliebten Abenteuer des trotteligen Kommissars Maroni (2001ff). Auch sie sind leider immer noch nicht auf Deutsch erschienen.

Was hingegen einigermaßen zügig ins Deutsche übersetzt wurde, sind Delisles eher journalistische Arbeiten. Sie sind zwar auch umstandslos dem Comic-Genre zuzurechnen, wollen aber mehr sein als nur hübsch erzählt und gezeichnet. Der kanadische Künstler hat in den letzten Jahren mit seinen großartigen Reportagen „Shenzhen“ (dtsch. 2006), „Pjöngjang“ (2007) und „Aufzeichnungen aus Birma“ (2009) bewiesen, dass im Medium des Comics die drängende Gegenwart und vor allem auch politische Themen bearbeitet werden können – und sollten.

Begegnungen, Karten, Worterklärungen

Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, Delisle nur als Comic-Zeichner in einem landläufigen Sinne zu verstehen. Bei ihm wird der Comic zur journalistischen Form, was immer auch ein Wagnis bedeutet, nicht nur künstlerisch. Das zeigen auch seine neuesten „Aufzeichnungen aus Jerusalem“, seiner nunmehr vierten Reisereportage: Delisle hat seine Frau von 2008 bis 2009 nach Israel begleitet, die für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ arbeitet; dabei nutzte der Künstler die Zeit, die ihm die Haushaltsführung und Kinderpflege ließ, für die Erkundung eines ihm fremden Landes.

Noch nie wurden im Comic die politischen Verhältnisse in Israel so genau beschrieben. Dazu gehören nicht nur die Schilderungen von Begegnungen und Begebenheiten, sondern auch Grafiken und Karten und sogar illustrierte lexikalische Einträge, Worterklärungen etwa. Selbstverständlich kommt Delisle nicht umhin, auch die bekannten Sachverhalte zu erwähnen – etwa dass Israel die einzige Demokratie in der Region sei, allerdings die demokratischen Grundrechte nur seinen Staatsbürgern vorbehalte, und so weiter.

Überraschend sind vielmehr die vielen einzelnen, in kleinen Episoden eingefangenen Beobachtungen. Etwa die vollverhüllten muslimischen Frauen, die in den gut bestückten Supermärkten der jüdischen Siedler einkaufen. Die Siedler wiederum lassen ihre Autos in den billigen Werkstätten von Wadi Al-Joz reparieren, einem arabischen Viertel in Ost-Jerusalem. Als besondere Dienstleistung wird ausgerechnet dort der Einbau von Kunststofffenstern zum Schutz gegen palästinensische Steinwerfer angeboten.

Schnelle, skizzenhafte Striche

Solche Geschichten kommen in der politischen Berichterstattung kaum vor. Gewiss auch nicht die „sternenhagelvollen Ultraorthodoxen“, deren glaubensstrenges und den weltlichen Genüssen eigentlich abgeneigtes Leben an einem Tag im Jahr ganz anders ist: Beim jüdischen Purimfest verkleiden sich die Männer als Araber, trinken Alkohol bis zum Umfallen und sprechen sogar mit Un-Gläubigen (das heißt allen anderen außer ihnen). Delisle führt uns in solche, eher unbekannteren Regionen des alltäglichen Wahnsinns in einem Land, das nicht zur Ruhe kommen will

Dabei hält er seine Eindrücke in schnellen, skizzenhaften Strichen fest, seine Bilder sind zudem nur sparsam koloriert. Anders als etwa bei Sarah Gliddens Comic „Israel verstehen“ will er auch keine große Geschichte erzählen. Und während Zeichner wie Joe Sacco („Palästina“, „Gaza“) sich parteilich geben, hält sich Delisle mit seinen „Wahrheiten“ zurück. In letzter Zeit wurde eine Reihe von Israel-Comics veröffentlicht.

Neben den schon erwähnten wären gewiss Juilard Yanns gerade erschienenes „Mezek“ zu nennen, eine mit viel Fliegerromantik vorgetragene Geschichte aus der Entstehungszeit der israelischen Luftwaffe, oder Rutu Modans eindringliches Familiendrama „Blutspuren“, das vor dem Hintergrund des schwer bewaffneten Besuchs von Ariel Scharon auf dem von Muslimen, Juden und Christen gleichermaßen als heilig deklarierten Tempelberg im Jahre 2000 spielt.

Israel ist ein „schwieriges“ Thema und im Comic längst angekommen, der sich in der Tat als ein historisch wie politisch durchaus belastbares Medium erweist. Und zudem als ein journalistisches, wie die Arbeiten von Delisle so meisterhaft vorführen.

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Aus dem Französischen von Martin Budde. Reprodukt, Berlin 2012. 336 Seiten, 29 Euro.