Ausstellung im Rathaus : Das jüdische Leben in Schöneberg
Zwei kleine Mädchen mit Pagenkopf sitzen in einem Sandkasten. Der Kniestrumpf der einen ist heruntergerutscht. Ihr Name ist Inge Rackwitz, später Lammel, Jahrgang 1924. Bis 1939 wohnte sie mit ihrer Schwester und den Eltern in der Rosenheimer Straße 26 in Berlin-Schöneberg, sie besuchte das Lyzeum in Lankwitz und floh dann mit einem Kindertransport nach England. Dies erfährt man in dem ihr gewidmeten Album, eines von 152, in der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“, die von Montag an wieder im Rathaus Schöneberg zu sehen ist. Gemeint sind die jüdischen Nachbarn von einst. 16.000 Juden wohnten in Schöneberg, bevor die Nationalsozialisten sie vertrieben oder ermordeten, vor allem im Bayrischen Viertel.
Es ist eine einzigartige Ausstellung, die jetzt wieder in der frisch renovierten großen Ausstellungshalle mit ihrer eindrucksvollen Glaskuppel zugänglich ist. Vor zehn Jahren wurde sie dort zum ersten Mal eröffnet, aber eigentlich hat alles schon viel früher angefangen, Anfang der 1980er Jahre, als die Geschichtswerkstätten entstanden, die sich Lokalgeschichte durch Biografieforschung und „oral history“ erschlossen. In Schöneberg und anderen West-Berliner Bezirken bereitete man sich so auf den 50. Jahrestag der Machtergreifung vor, 1983 erschien die leider vergriffene Broschüre „Wer sich nicht erinnern will...“- Kiezgeschichte Berlin 1933 bei Elefantenpress, und vier Jahre später gab es die erste Ausstellung zu dem Thema, und es erschien im Selbstverlag „Leben in Schöneberg/Friedenau 1933–1945“, das auch nicht mehr verfügbar ist.
„Kuss!“ Schluss!“
Zur selben Zeit schrieb der Schöneberger Bezirksverordnete Andreas Wilcke die Namen von 6 000 deportierten Schöneberger Juden aus den NS-Akten der Oberfinanzdirektion heraus. Sie stehen sie auf Karteikarten an den Wänden der Halle, mit der Hand geschrieben. Man kann hier seine Adresse suchen. Gertrud Stern, die in der Regensburger Straße 7 wohnte, wurde im Juni 1942 deportiert. Von der Landshuterstraße 3 gibt es 14 Karteikarten mit Namen von Deportierten. Das Haus muss leer gewesen sein.
Herzstück der Ausstellung sind jedoch die Alben, die Ausschnitte aus Gesprächen mit Zeitzeugen dokumentieren, aus ihren Briefen oder E-Mails zitieren, alte Fotos und andere Dokumente zeigen. Manche haben die Kinder der Dargestellten zusammengestellt, oder „Menschen mit Affinität zum Thema“, wie die Kuratorin der Ausstellung Katharina Kaiser sagt, auch junge Historiker. Es ist ein „work in progress“, jedes Jahr kommen neue hinzu. Wie im Lesesaal einer Bibliothek sind sie auf langen Tischen ausgebreitet, jedes mit einer kleinen Leselampe. Man kann hier Stunden zubringen und blättern oder sich einen Kopfhörer an einer Hörstation aufsetzen und die Stimme der Fotografin Gisèle Freund oder der Lyrikerin Nelly Sachs hören, die auch einst in Schöneberg wohnten, so wie viele andere Künstler.
Inge Lammel, die in den 1950er- Jahren in die DDR zog, hat Briefe ihrer Mutter zur Verfügung gestellt, die diese ihrem „lieben Ingelein“ nach England schrieb. Selbst im letzten lässt sie sich nichts von der Verzweiflung anmerken, dass für sie kein Weg aus Deutschland hinausführt. „Kuss!“ Schluss!“, schreibt die Mutter. Sie verließ Berlin in einem Transport nach Auschwitz.
Sonntag, 7. Juni, Feierliche Wiedereröffnung der Ausstellung "Wir waren Nachbarn"
in der großen Ausstellungshalle, Rathaus Schöneberg, 17 Uhr