Bayern stellt sich quer: Streit um Rückgabe von Picassos „Madame Soler“
Ein neues Erinnerungsprojekt soll das Schicksal jüdischer Kunstsammler in der NS-Zeit dokumentieren. Gut gedacht. Allerdings hat es einen gravierenden Makel.

Am Donnerstag wird in Berlin ein neues Erinnerungsprojekt vorgestellt, mit dem das Schicksal jüdischer Kunstsammler in der NS-Zeit und der Raub ihrer Kunstwerke durch die Nazis dokumentiert werden sollen. Für eine „Mediathek der Erinnerung“ wollen der Bayerische Rundfunk und der Rundfunk Berlin Brandenburg Filme über jüdische Menschen produzieren, die – wie es im Pressetext zu der Auftaktveranstaltung heißt – „einst das Kulturleben Deutschlands maßgeblich geprägt haben, die aber von den Nationalsozialisten verfemt, entrechtet, verfolgt, beraubt und ermordet wurden“.
Initiiert wurde und angeleitet wird das Projekt außer von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auch von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Allerdings weigern sich ausgerechnet die Bayern seit nunmehr zwölf Jahren hartnäckig, die umstrittene Herkunft eines mutmaßlich NS-verfolgungsbedingt entzogenen Gemäldes aus ihrer Sammlung durch ein unabhängiges Gremium klären zu lassen.
Es geht um das 1903 von Pablo Picasso gemalte Porträt der „Madame Soler“. Das Bild gehört zu den bedeutendsten Werken aus der sogenannten blauen Periode des Künstlers und zeigt die Ehefrau von Picassos Freund, des spanischen Schneiders Benet Soler.
Seit fast 60 Jahren befindet es sich im Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, wo man es lange Zeit im Saal 6 der Münchner Pinakothek der Moderne besichtigen konnte. Seit einigen Jahren nun schon hängt es dort nicht mehr, und auch eine digitale Darstellung des Gemäldes auf der Internetseite der Pinakothek ist „aktuell nicht verfügbar“, wie es auf der Website heißt.
Der Konflikt um das Picasso-Gemälde schwelt seit Jahren
Das hängt vermutlich mit dem Streit um die Herkunft des Gemäldes zusammen. Bis Anfang der 1930er-Jahre gehörte das Bild dem jüdischen Kunstsammler und Mitinhaber der Berliner Bank Mendelssohn & Co., Paul von Mendelssohn-Bartholdy. Seine Erben behaupten, der Bankier habe das Bild 1934/35 unter Zwang aus seinen Händen geben müssen. Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und ihr Träger, der Freistaat Bayern, wiederum stehen auf dem Standpunkt, man habe das Gemälde im Jahr 1964 in New York aus der Sammlung des Kunsthändlers Justin K. Thannhauser erworben, der seinerseits das Bild 1934/35 Mendelssohn-Bartholdy regulär abgekauft habe.
Der Konflikt um das Picasso-Gemälde schwelt seit 2009. Vergleichsgespräche scheiterten bislang, auch ein Gerichtsverfahren in den USA führte mangels Zuständigkeit zu nichts.
Da nun Aussage gegen Aussage steht, wäre „Madame Soler“ ein klassischer Fall für die 2003 von Bund und Ländern eingesetzte „Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“.
Diese Kommission wurde zur Umsetzung der Washingtoner Erklärung von 1998 gegründet, in der sich Deutschland zusammen mit weiteren Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet hatte, während der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke in öffentlichen Sammlungen und Museen zu identifizieren und eine „gerechte und faire Lösung“ mit den Erben der früheren Eigentümer zu finden. In Streitfällen wie dem um das Picasso-Gemälde soll die Beratende Kommission also entscheiden, ob ein Kunstwerk dem jüdischen Eigentümer verfolgungsbedingt entzogen wurde oder nicht.
Doch das Gremium hat einen Geburtsfehler: Laut Satzung kann es nur dann tätig werden, wenn es von den beteiligten Streitparteien gemeinsam angerufen wird. Bei Picassos „Madame Soler“ aber weigert sich die Bayerische Staatsregierung seit 2011, die Kommission einzuschalten. Begründung: Der Verkauf des Bildes durch Mendelssohn-Bartholdy war nicht finanziellen Nöten geschuldet und fand seinerzeit ohne Druck statt, weshalb es für das Anrufen der Beratenden Kommission „keine Veranlassung“ gebe.

Paul von Mendelssohn-Bartholdy besaß eine der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst
Keine finanziellen Nöte? Kein Druck von außen? Ein genauer Blick auf das Schicksal von Paul von Mendelssohn-Bartholdy zeichnet ein anderes Bild. Den Grundstock für seine Kunstsammlung hatte der Berliner Bankier bereits vor dem Ersten Weltkrieg gelegt. Zusammen mit seiner ersten Ehefrau Charlotte erwarb er in den Folgejahren Werke unter anderem von van Gogh, Toulouse-Lautrec, Cézanne, Degas, Braque, Monet, Renoir und Picasso. Damit galt die Kollektion unter Experten als eine der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst ihrer Zeit. Nach der Scheidung von Ehefrau Charlotte 1927, die einen Teil der Bilder erhielt, umfasste die Sammlung des Bankiers Anfang 1933 noch etwa 60 Werke.
Paul von Mendelssohn-Bartholdy hatte stets einen privaten Lebensstil gepflegt, sodass seine Sammlung lediglich wenigen Kunstexperten und -händlern bekannt war. Nur selten gab er Bilder, die sein Palais in der nahe dem Reichstag gelegenen Alsenstraße und sein Gutsschloss auf dem Rittergut Börnicke bei Berlin schmückten, als Leihgaben in Ausstellungen. Auch dass er Exponate aus seiner Sammlung verkaufte, war eher eine Ausnahme und betraf bestenfalls weniger bedeutende Werke.
Nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 sah sich die Familie Mendelssohn-Bartholdy der gezielten Verfolgung ausgesetzt. Die NS-Presse hetzte immer lauter gegen den vermögenden Bankier, der aus ihrer Sicht das antisemitische Klischee des jüdischen Geschäftemachers verkörperte. Angesichts von Boykottmaßnahmen des NS-Regimes musste er damit rechnen, dass sein Bankhaus Mendelssohn & Co., das vor der Machtübernahme zu den großen Privatbanken Deutschlands zählte, nicht mehr überleben konnte.
Anfang 1934 verlor Paul von Mendelssohn-Bartholdy seine Vorstandsposten im Zentralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes und in der Reichsversicherungsanstalt. Die Geschäfte des Hauses Mendelssohn & Co., das 1938 von der Deutschen Bank übernommen werden sollte, liefen nun ebenfalls immer schlechter. Die Bank wurde gezwungen, sich von Beteiligungen an erfolgreichen Unternehmen zu trennen, und wurde gezielt aus anderen Geschäften herausgehalten.
Auch das Privatvermögen des Bankiers schmolz dramatisch zusammen, weil er seinen Verpflichtungen gegenüber seinen Angestellten und Familienmitgliedern nachkommen musste. Ende 1934 war zudem sein jährliches Einkommen aus dem Bankhaus Mendelssohn & Co., verglichen mit dem Jahr 1932, um fast 90 Prozent geschrumpft.

Aus Sorge um seine persönliche Sicherheit zogen Mendelssohn-Bartholdy und seine zweite Frau aus ihrem repräsentativen Palais in der Nähe vom Reichstagsgebäude aus. Auch das Landgut in Börnicke war nun bedroht. Aufgrund des Reichserbhofgesetzes von September 1933 wurde Juden die „Erbhoffähigkeit“ abgesprochen.
Angesichts der drohenden Vernichtung seiner beruflichen und persönlichen Existenz sowie der wegbrechenden Einnahmen bemühte sich Mendelssohn-Bartholdy darum, zumindest die wertvolleren Bilder seiner Sammlung mithilfe ihm bekannter Kunsthändler zu veräußern. Belegt ist, dass der Bankier Ende 1934, Anfang 1935 insgesamt 15 Kunstwerke verkaufte, darunter neben dem Porträt der „Madame Soler“ weitere Gemälde von Picasso, Renoir, van Gogh und Braque.
Dabei spielten bei Paul von Mendelssohn-Bartholdy sicherlich auch Überlegungen eine Rolle, durch den Verkauf einiger Kunstwerke über finanzielle Mittel verfügen zu können, sollte er Deutschland verlassen müssen. Wie weit seine Überlegungen zu jener Zeit gediehen waren, ins Exil zu gehen, lässt sich jedoch nicht mehr feststellen. Am 10. Mai 1935 starb Paul von Mendelssohn-Bartholdy überraschend an einer Herzattacke, er wurde nur 59 Jahre alt.
Das Porträt der „Madame Soler“ gehörte zu einem Konvolut von insgesamt fünf namhaften Picasso-Werken, die Mendelssohn-Bartholdy 1934/35 an den aus Berlin stammenden Berliner Kunsthändler Justin K. Thannhauser veräußerte. Dieser brachte die Gemälde in seine Galerie in Luzern und verkaufte zwei davon noch zu Kriegszeiten, die übrigen drei nach 1945.
Rechtlich umstritten ist nun die Frage, ob der Verkauf der Bilder an Thannhauser aus einer Zwangssituation heraus erfolgte. Für die Bewertung dieser Frage seien die Umstände von Belang, unter denen Paul von Mendelssohn-Bartholdy die Picasso-Bilder seinerzeit veräußerte, erklärt der Berliner Rechtsanwalt der Erben, Ulf Bischof. „Paul von Mendelssohn-Bartholdy sah sich durch die Machtergreifung der Nazis und die gegen ihn gerichteten Maßnahmen gezwungen, Teile seiner Kunstsammlung zu verkaufen“, sagt Bischof. „Er wählte notgedrungen die wertvollsten Bilder aus, weil sie den höchsten Erlös versprachen. Freiwillig hätte er sich nicht davon getrennt.“ Deshalb seien ihm die Gemälde verfolgungsbedingt entzogen worden.
Im August 1964 erwarben die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen das Picasso-Bild „Madame Soler“ für 1,6 Millionen D-Mark von Thannhauser. Unklarheiten bei der Provenienz des Bildes wollen die Münchner nicht erkennen. Eigene Recherchen hätten ergeben, dass es „keinen Zusammenhang“ zwischen dem Verkauf von „Madame Soler“ und der Verfolgung seines Eigentümers durch das NS-Regime gebe, erklärten die Bayern den Anwälten der Erben.
Monika Grütters appellierte an den bayerischen Minister Ludwig Spaenle
2016 schaltete sich die damalige Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), in den Streitfall ein. Den Mendelssohn-Bartholdy-Erben teilte sie mit, sie werde sich „zur weiteren Abklärung in der Angelegenheit“ persönlich an ihren bayerischen Ministerkollegen Ludwig Spaenle (CSU) wenden. Zuvor hatte die Staatsministerin in einer öffentlichen Erklärung deutlich „die Erwartung geäußert, dass alle deutschen Museen in strittigen Fällen, in denen NS-Verfolgte oder ihre Nachkommen dies wünschen, zu einer Anrufung der Kommission bereit sind“.

Der Appell von Monika Grütters fruchtete nicht. Sowohl die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen als auch die Regierung des Freistaats halten bis heute starrsinnig an ihrer Haltung fest. Zuletzt erklärte das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst im Herbst 2020 „abschließend“, dass eine Einschaltung der Kommission „aus hiesiger Sicht nicht angezeigt“ sei.
Der Vorsitzende der Beratenden Kommission, der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, fand deutliche Worte zur sturen Haltung der Söder-Regierung. „Es ist einfach unerklärlich, dass der Staat einen von ihm eingerichteten Vermittlungsmechanismus ablehnt“, sagte er vor zwei Jahren der New York Times. Hingegen will sich die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth (Grüne), offenbar nicht mit den Bayern anlegen. Auf Anfrage ließ sie lediglich mitteilen, dass „aufgrund des föderalen Staatsaufbaus die Entscheidung, einem Verfahren vor der Beratenden Kommission zuzustimmen, allein bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und ihrem Träger, dem Freistaat Bayern“, liege.
Julius Schoeps, der Sprecher der Erbengemeinschaft, nennt die Haltung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und des Freistaats skandalös. „Es kann nicht sein, dass ein beteiligtes Museum selbst über einen solch einen umstrittenen Sachverhalt entscheidet“, sagt er. „Dann brauchen wir die Beratende Kommission nicht. Manche der Erben sagen zur Haltung der Bayern bereits, dies sei der letzte Akt der Arisierung.“
Faire Vergleiche mit dem MoMA und dem Guggenheim-Museum in New York
Im Fall der vier anderen, 1934/35 zusammen mit dem Porträt von „Madame Soler“ im selben Rechtsgeschäft von Mendelssohn-Bartholdy an Thannhauser veräußerten Picasso-Werke haben die Erben übrigens in den vergangenen Jahren faire und gerechte Lösungen im Geiste der Washingtoner Prinzipien finden können: Mit dem MoMA und dem Guggenheim-Museum in New York sowie der Andrew-Lloyd-Webber-Stiftung erzielten sie Vergleiche, in deren Ergebnis die Werke aus der Sammlung Mendelssohn-Bartholdys gegen eine Entschädigung in den dortigen Sammlungen verblieben; die National Gallery in Washington hingegen gab ihren aus dem Thannhauser-Bestand stammenden Picasso an die Erben zurück.