„Becoming Milli“: Ein Plädoyer für die Dekolonisierung Schwarzer Sexualität

Unsere Autorin datete ihr Leben lang weiße Männer. Spät wurde ihr bewusst, warum. Ein persönlicher Einblick in die deutsche Kunst- und Kolonialgeschichte.

Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“. 
Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“. MALONDA

Vorbemerkung: Der vorliegende Text unterscheidet zwischen „Milli“ als kolonialisiertem Subjekt (mit Anführungszeichen) und Milli als realer Person (ohne Anführungszeichen).

Als ich mir überlegt habe, für den Katalog zur Gruppenausstellung „I am Milli“, kuratiert und basierend auf einem Projekt von Natasha A. Kelly, über Sex und Kolonialismus zu schreiben, hatte ich keine Ahnung, was das alles in mir auslösen würde. Durch den Blick des weißen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner auf „Millis“ Nacktheit inspiriert, wollte ich eigentlich etwas Kluges und Wissenschaftliches schreiben. Aber inmitten der Recherche wurde mir bewusst, dass ich meinen Teil innerhalb der Geschichte Schwarzer Körper in diesem Land bislang nicht einmal mir selbst gegenüber zugegeben habe.

Ich bin eine Schwarze Deutsche. Ich bin Musikerin, Songwriterin und Aktivistin. Ich spreche bei Panels, gebe Workshops und schreibe seit langer Zeit für verschiedene Publikationen. Noch nie ist mir ein Text so schwergefallen. Ich weiß nicht einmal, wo ich eigentlich anfangen soll, weil es in dieser Sache keine Linearität gibt. Es gibt nur eine Verstrickung von Strukturen und von persönlichen Traumata, die ich zu entwirren versuche, während sich immerzu neue Fäden verknoten.

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

Kein Platz in deutscher Geschichte

Mein Körper, dark-skinned und frauisiert – wie der von „Milli“ in Kirchners Gemälde „Schlafende Milli“ –, ist gezeichnet von dem ständigen Gefühl, nirgends hinzugehören. In den 80ern in Deutschland geboren, im Jahr der Hitler-Tagebücher, sind die Meilensteine meiner Kindheit und Jugend unter anderem Tschernobyl, der Mauerfall und später Mölln, Solingen, der Eurodance-Boom sowie der erste Prozess gegen Michael Jackson.

Ich bin die Tochter einer Kongolesin und eines Sudanesen. In der Demokratischen Republik Kongo war ich zuletzt, als sie noch Zaire hieß. Im Sudan war ich noch nie. Da mein Vater und meine Mutter kein Paar waren, wuchs ich ab meinem elften Lebensmonat in einer weißen Pflegefamilie in Essen auf. Es war ein gutes Leben, denn meine Pflegemutter nahm nicht nur mich, sondern auch meine leibliche Mutter in die Familie auf. Ich wurde daher weitestgehend weiß sozialisiert und war dergestalt behütet, dass ich mich zumindest intellektuell vollends auf das Gaslighting der 80er-Jahre, wonach es in Deutschland keinerlei rassistische Strukturen und Hautfarben gebe, einlassen konnte. Natürlich blieb da neben dem von mir ausgeblendeten Alltagsrassismus ein stetiges Unwohlsein, eine Art emotionaler Disconnect, was ich mir vor allem selbst zuschrieb.

In dem Bild der deutschen Geschichte, das mir in der Schule vermittelt wurde, war ich unsichtbar und stach gleichzeitig stets unangenehm heraus. Das Ergebnis war eine doppelte Entfremdung: So wie ich einerseits keinen Bezug zur deutschen Geschichte aufbauen konnte, fehlte mir andererseits in vielerlei Hinsicht der Bezug zu meinem eigenen Körper. Auf Fotos von Schulausflügen ist die Haltung einer Person zu erkennen, die von Geburt an als „anders“ markiert war: verkniffenes Lächeln, leicht geduckt, nicht wissend, wohin mit den eigenen dünnen und sehr langen Gliedmaßen.

Zwischen Scham und Bravo Girl!

Bis ins frühe Teenageralter wurde ich, wenn ich keine langen Zöpfe oder Weaves trug, männlich gelesen. Als ich noch klein war, hatte ich beim Vater-Mutter-Kind-Spiel mit einer Freundin oft freiwillig den Vater gespielt und das Gefühl, aufrichtig verliebt zu sein. Rückblickend wusste ich wohl damals schon, dass ich sowohl Jungen als auch Mädchen mochte, sprach aber aus Angst nicht darüber. Ein weißer Junge, in den ich mich mit elf verliebte, bekam sich vor Lachen kaum ein, als er von meinen Gefühlen erfuhr. Ich hatte extra ein Kleid angezogen, um ihm zu gefallen. Da ich kein eigenes ins Zeltlager mitgebracht hatte, musste ich mir eins ausleihen. Es hatte ein Minnie-Mouse-Motiv und sah schrecklich aus. Brüste bekam ich erst zwei Jahre später, lange nach den anderen in meiner Klasse. „Die Flummis“, wie sie meine leibliche Mutter nannte, waren sehr klein und anders geformt als die meiner Freundinnen. Ich schämte mich.

Durch die Bravo Girl! lernte ich mich letztlich selbst zu berühren und meine sexuellen Bedürfnisse zu erkunden. Aber alle in der Jugendzeitschrift abgebildeten Körper machten mich zur Fremden. Es fühlte sich irgendwie falsch an, so als wäre ihre Sexualität nicht für mich gemacht. Ich entsprach nicht dem dargestellten Schönheitsideal und war bei den Make-up-Tipps offenkundig nicht mit bedacht worden.

Heute weiß ich, dass das alles nicht meine Schuld ist und dass es strukturelle Gründe dafür gibt, dass ich in den Bildern, die mich umgaben, nicht vorkam. Wenn ich heute mit so starker Faszination auf das Bild „Schlafende Milli“ schaue, dann auch, weil in dieser Faszination das Fehlen solcher Bilder in meiner Kindheit und Jugend nachhallt. Natürlich weiß ich um den weißen Blick des Malers, der meine Identifikation verkompliziert und zudem eine Beziehung zwischen ihm und dem von ihm dargestellten Objekt herstellt. Spekulationen über die Natur der Beziehung zwischen „Milli“ und Ernst spielen für meinen Selbstfindungsprozess in dem Gemälde eine eher untergeordnete Rolle. Ich verweigere mich auch Kirchners Zentrierung, die kunsthistorisch in Bezug auf dieses Bild immer wieder stattgefunden hat.

Vielmehr geht es mir darum, den Schleier des weißen Blicks zu lüften. Vielleicht entdecke ich darunter die echte Milli. Eine Schwarze Frau, deren Bedürfnisse, deren Lust, deren Sexualität für sich stehen – und nicht nur in Abhängigkeit von Kirchner existieren dürfen.

„Schlafende Milli“ von Ernst Ludwig Kirchner
„Schlafende Milli“ von Ernst Ludwig KirchnerArtcolor

Ernst Ludwig Kirchner und „Milli“

Seit Beginn der Kolonialzeit wurden rassifizierte Menschen und ihre Sexualität zum Gegenentwurf der weißen Zivilisation herabgewürdigt und für minderwertig erklärt. Der Schwarze, frauisierte Körper wurde an den Rand des Menschseins in die Nähe des Tieres gerückt und exotisiert. Er diente dazu, europäische Repräsentationen von Weiblichkeit positiv hervorzuheben. Diese Verschränkung von Rassismus und Sexismus, die heute Misogynoir genannt wird, ist womöglich die Mutter der Intersektionalität und die fortwährend fatale Konsequenz des Versuchs, den Umgang mit den Kolonialisierten als naturgemäß zu rechtfertigen.

Ein historisches Beispiel hierfür ist etwa Sarah „Saartije“ Baartman, die zu Lebzeiten landläufig unter dem Namen – Triggerwarnung – „Hottentotten-Venus“ bekannt war. Im 19. Jahrhundert aufgrund ihres großen Gesäßes in London und Paris ausgestellt und begafft, wurde aus ihr schließlich ein Forschungsobjekt für die europäische Naturgeschichte. Sogar an ihrer Leiche wurde noch herumexperimentiert. Teile ihres Körpers, darunter ihr Geschlechtsteil, wurden bis in die 1970er-Jahre im Musée de l’Homme in Paris ausgestellt. Saartijes unter dem weißen Blick verzerrtes, dehumanisiertes Bild prägt den Blick der Außenwelt auf mich und ist mir gewaltsam in die Haut eingeschrieben.

Der Umgang mit versklavten, weiblich gelesenen Körpern in den USA, die massenweise vergewaltigt wurden, damit sie den selbst ernannten „Besitzern“ Kinder als neues Arbeitsmaterial gebaren, ist hinlänglich bekannt. Ebenso wie die Geschichte der dortigen Befreiungskämpfe. Mit Blick auf Europa wissen wir dagegen vergleichsweise wenig.

Frauen mit afrikanischen Wurzeln wurden erst im Zuge des Spätkolonialismus Anfang des 20. Jahrhunderts strukturell und institutionell relevant. Der Grund: Europäische Männer hatten sich zu diesem Zeitpunkt in den Kolonialgebieten zu heimisch gefühlt und Kinder aus unterschiedlich rassifizierten Familienzusammenhängen gezeugt, die nun an der Schwelle standen, Bürgerrechte für sich zu beanspruchen. Weiß sein und bleiben wurde zur Agenda du jour, weshalb weiße europäische Frauen in die Kolonien geschickt wurden.

Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.
Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.MALONDA

Wie das europäische Patriarchat weiß wurde

Die französische Schriftstellerin Clotilde Chivas-Baron zitierte in ihrer 1929 erschienen Verteidigung der sogenannten Zivilisationsmission den britischen Künstler George Hardy: „Ein Mann kann nur in der Obhut einer Frau seiner eigenen Rasse ein Mann bleiben.“ Gehörte es vorher noch zum guten Ton, sich als weißer Europäer eine sogenannte Eingeborene als Haushaltshilfe – oder ins Bett – zu holen, wurde die gesellschaftliche Frage, wie mit kolonialisierten Subjekten zu sozialisieren sei, fortan zu einem Marker der Identität, der über Moral, Respektabilität, Zivilisation und in letzter Konsequenz auch über Menschlichkeit entschied. Europas Patriarchat wurde dadurch so weiß, wie wir es heute kennen.

Mehr noch: Sex in den Kolonien wurde durch gesetzliche Regelungen zur staatlichen Angelegenheit, wodurch das Konstrukt „Rasse“ mit körperlich-biologischer Konsequenz kodifiziert wurde. Auch in Deutschland wurde die – Triggerwarnung – „Mischlingsfrage“ in den deutschen Kolonien im Rahmen einer Reichstagsdebatte 1912 heftig diskutiert, teilweise mit bizarren Höhepunkten: Während sich der Staatssekretär des Reichstags und Gouverneur von Deutsch-Samoa, Wilhelm Solf, in seiner Eingangsrede gegen die Ehe zwischen weißen und rassifizierten Menschen aussprach – „Wir sind Deutsche, wir sind Weiße und wollen Deutsche bleiben“ –, gab es auch Beiträge, die solchen Verbindungen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden.

Sei es, weil sie darin im Vergleich zu außerehelichem Geschlechtsverkehr oder dem sogenannten Konkubinentum, einer dauerhaften nichtehelichen Form der geschlechtlichen Beziehung, das kleinere moralische Übel sahen. Oder weil, wie Zentrumspolitiker Adolf Gröber sogar mit Bildmaterial zu belegen suchte, „gerade Samoanerinnen recht hübsch“ sind, „hübscher“, behauptete er, „sind sie bei uns auch nicht“. Gleichzeitig sprachen sich etwa katholische Würdenträger bei der Wahl zwischen Vermischung vermeintlicher Rassen oder außerehelichem Geschlechtsverkehr, auch in Bordellen, eher für letzteres aus, wenn so ersteres verhindert werden konnte.

Die widersprüchlichen Positionen zeigen, dass in diesem Konflikt vermeintlich feste Grundsätze der Sexualmoral plötzlich genau dann zur Disposition standen, wenn die Integrität der weißen deutschen Rasse in Gefahr schien. Dabei war vor allem die deutsche weiße Frau, teils aber auch der deutsche weiße Mann vor der sexuellen Anziehungskraft rassifizierter Körper zu beschützen. Wobei schon die bloße Empfänglichkeit für diese Anziehungskraft durchaus als Beleg einer rassischen Dekadenz jener weißen Deutschen gewertet wurde.

Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.
Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.MALONDA

„Rasse“, „Nation“ und „Sexualität“ wurden untrennbar verknüpft

Drei Punkte lassen sich aber aus den genannten Beiträgen herauslesen: Es ging trotz des Themas eigentlich um Sex, nicht um Ehe oder Beziehung. Es fand eine nicht immer ausgesprochene Hierarchisierung der kolonialen Subjekte statt, die auch über das Medium „Schönheit“ bzw. Attraktivität verhandelt wurde, wobei Menschen afrikanischer Herkunft tendenziell auf den unteren Stufen angesiedelt wurden. Und schon damals waren die Kategorien „Rasse“, „Nation“ und „Sexualität“ untrennbar miteinander verknüpft.

Zu keiner Zeit ging es dabei um die realen Geschlechteridentitäten oder die tatsächliche Sexualität der rassifizierten Subjekte, weshalb in diesem System auch Queerness, intergeschlechtliche, nichtbinäre und trans* Identität eingeebnet wurden. Homophobie, beziehungsweise die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Verbindungen unter Männern, war fester Bestandteil der imperialen Struktur. In einer traurigen Verdrehung der Geschichte behaupten die autoritären Regime ehemaliger Kolonialstaaten nun, Homosexualität sei „unafrikanisch“ und durch den Kolonialismus importiert. Die Vielfalt sexuellen Ausdrucks und geschlechtlicher Identitäten, die Grundlage prä-kolonialer Gesellschaften war, wird damit endgültig unsichtbar.

Für die Kolonisator*innen standen stets die Konstruktion weißer Identität, die damit verbundene Binarität der Geschlechter, patriarchale (Cis-)Heteronormativität und die Modalität weißen Zusammenlebens im Zentrum – mit dem Ziel, die Hegemonie und ökonomischen Interessen weißer Männer zu sichern. Kirchner wiederum hat sich zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes nicht als Verteidiger dieser Strukturen verstanden, war ihnen gegenüber vielleicht sogar oppositionell eingestellt, wie biografische Notizen zeigen. So erinnerte sich Fritz Schumacher, damals Professor an der Technischen Hochschule Dresden, an ein Gespräch mit seinem Studenten Kirchner um 1905: „Er ließ durchblicken, daß die zivilisierte Welt nichts als Enttäuschungen böte und nur noch bei primitiven Menschen einige Erholung zu finden sei. Ich erinnerte ihn an Gauguin. Er nahm das so ernsthaft auf, daß ich bei seinem Fortgang einen Aufbruch aus Europa mit Sicherheit erwartete.“

Vielleicht wollte er seine Opposition durch das Malen Schwarzer Körper in bürgerlichen Kontexten zum Ausdruck bringen. Dass er seine Rolle innerhalb jener Strukturen trotzdem erfüllt hat, zeigt, wie rassistische Strukturen ohne aktive Opposition auch rassistisches Verhalten, in diesem Fall: eine rassistisch-sexistische Objektifizierung, hervorbringen.

Die am Ende der Reichstagsdebatte verabschiedete Resolution forderte einen Gesetzentwurf, zu dem es aber nie kommen sollte. Stattdessen wurde 1912/13 das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz im deutschen Kaiserreich verabschiedet, das kolonialisierte Subjekte von vornherein von der Zugehörigkeit zur „deutschen Rasse“ ausschloss.

Als Deutschland seine Kolonien am Ende des Ersten Weltkriegs letztlich verlor, wurden Schwarze Menschen deportiert, des Landes verwiesen oder mit Fremdenpässen institutionell zu Nichtdeutschen gemacht. Aber das Bild, das von Körpern wie meinem bis heute im deutschen Gedächtnis weiter existiert, ist immer noch das koloniale, das mich zu einem mangelhaften und nicht begehrenswerten Körper stilisiert. Die kollektive Erinnerung an das unzivilisierte, lüsterne Tier sorgt dafür, dass ich in seltenen Fällen sogar noch heute zum Beispiel auf der Straße mit Affengeräuschen bei gleichzeitiger Hypersexualisierung meines Hinterteils lebe.

Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.
Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.MALONDA

Ernst Kirchner und ich: Projektionen

Das Bild „Schlafende Milli“, das mit seinen klaren Linien einen realen Schwarzen Körper zeigt, erinnert mich an mein eigenes sexuelles Erwachen – und gleichzeitig daran, welche Rolle der koloniale Blick, der auch der Blick des Künstlers ist, in diesem Prozess gespielt hat. Ihre pinken Lippen formen ein befriedigtes Lächeln, die ebenso pinken Brustspitzen sind sichtlich erigiert. Hatte sie gerade guten Sex? Schläft sie wirklich? Oder weiß sie ganz genau, dass sie gerade vom Künstler und von uns angeblickt wird?

Ich kenne ihre Biografie nicht, denn wer sie wirklich war und wie sie Kirchner begegnet ist, darüber streitet sich die Forschung bis heute. Ich möchte an dieser Stelle auch keine Mutmaßungen anstellen. Was ich aber weiß, was ich mit Sicherheit sagen kann: Sie erinnert mich an mich. I AM MILLI. Und ich weiß, dass es ein schwieriges Unterfangen für meinen Schwarzen Femme-Körper ist, in der eigenen Gänze gesehen und wahrgenommen zu werden. Nicht nur könnten die Augen der betrachtenden Person Spuren äußerer und vielleicht sogar seelischer Verletzungen entdecken. Ich bin mir auch bewusst, dass der Blick weißer Männer, die mir so nahekommen, wie Ernst „Milli“ womöglich nahegekommen ist, eine historische Fortsetzung seines Blickes ist – in dem Moment, als er ihr Bild malte.

Der koloniale Blick weißer Männer begleitet mich bis heute

Damit meine ich den einen dezidiert weißen und inhärent kolonialen Blick, dem ich mich im Rahmen meiner Beziehungsgestaltung immer wieder allzu freiwillig unterworfen habe. Es ist genau dieser Blick, der mich auf Basis von historischen Zuschreibungen bewertet, abwertet und für minderwertig erklärt – oder als williges Objekt für die Begierde meiner Partner einstuft.

Vor Jahren haben mein Ex-Freund und ich uns beim Sex gefilmt, und ich war völlig fasziniert und auch ein bisschen befremdet davon, mich anschließend selbst dabei zu beobachten. Alles, was ich aus der Porno-Kategorie „Ebony“ bis dahin kannte – jene üppig eingeölten Körper – war fetischisierend und irgendwie auch entwürdigend. Und auch wenn ich die Videoaufnahmen selbstverständlich erregend fand, erschien mir die Vorstellung von „uns“ darin gewissermaßen absurd. Es war auf eine Art gänzlich unvorstellbar, dass dieser weiße Mann meinem Körper freiwillig huldigte. Erst viel später und mit Blick auf seine Dating-Historie verstand ich, dass er mich nicht einfach nur begehrt, sondern auch fetischisiert hat, sein Begehren also auf meiner Rassifizierung basierte.

Es ist auch derselbe weiße Blick, der mich als Schwarze Femme wie selbstverständlich auf meine Stärke und auf Care-Arbeit reduziert und der mir meine menschlichen Gefühle abspricht. Ein weiterer Ex-Partner war etwa sehr beflissen darin, mir gegenüber seine Probleme mit der angeblichen „Dekonstruktion“ seines Weißseins und seiner Männlichkeit zu zentrieren. Natürlich wusste er quasi auswendig, dass es wichtig ist, „zuzuhören“ und sich seiner Position bewusst zu sein.

Mit Blick auf die realen Machtverhältnisse innerhalb unserer Beziehung nahmen sein berufliches Scheitern und der von ihm diesbezüglich eingeforderte emotionale Support allerdings letztlich mehr Raum ein als alles, was ich an Diskriminierung und Schmerz erlebte. So manches Mal konnte er große Teile meiner Realität schlicht nicht aufnehmen oder vergaß sie einfach wieder. Gleichzeitig gefiel er sich in der Rolle desjenigen, der sein Denken zu dekolonialisieren versuchte und mich als kolonialisiertes Gegenüber ausgesucht hatte, das ihn bei dieser Expedition begleiten sollte. Sex wurde so zum Instrument von Macht und Kontrolle. Und während in Konflikten seine Aggressionen und Fehler menschliche Berechtigung hatten, wurde meine Wut oft stereotypisiert zur Grobheit verklärt. Das Resultat war ständiges Gaslighting – nicht zuletzt, was die Natur unserer Beziehung anging, die ausschließlich seiner Deutungshoheit unterlag.

Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.
Die Musikerin und Aktivistin Achan Malonda: Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“.MALONDA

Ich date in der Regel weiße cis Männer

Trotzdem habe ich in meinem Leben als queere Schwarze Person eigentlich nur weiße cis Männer ernsthaft gedatet. Ich dachte sogar sehr lange, ich sei gar nicht „richtig“ bisexuell, weil mir die historischen und strukturellen Implikationen dessen nicht bewusst waren. Auch nicht, inwiefern Race dabei eine Rolle spielt. An dieser Stelle bin ich gerade auf der Suche und habe noch keine Antworten. Als Künstlerin bediene ich mich im Moment noch der Musik und der Bilder, wie in meinem Video „Sexlied“, um die Gefühle und Ideen auszudrücken, für die ich noch keine Worte finde. Aber ich spüre, dass die gesellschaftlich aufgezeigten Grenzen von sexuellem Begehren durch meine Rassifizierung noch einmal verstärkt werden.

Zwar hatte ich in meinem Leben Sex mit unterschiedlich rassifizierten Menschen verschiedener geschlechtlicher Identitäten, erging mich in One-Night-Stands, Affären und romantischen Gefühlen in alle Richtungen. Aber ernsthafte Absichten hatte ich vor allem in Bezug auf oben genannte Demografie. Und ich glaube, dass es sich dabei um keine rein zufälligen Entscheidungen oder Präferenzen handelt. Das hat teils mit individuellen traumatischen Erfahrungen zu tun. Aber auch mit internalisiertem Rassismus und Homophobie sowie der kolonialen Tatsache, dass ein weißer Mann in meinem Kopf als der erstrebenswerteste Partner verbucht ist. Zu behaupten, dass es in Deutschland nun einmal nicht genügend Schwarze Menschen gebe, würde verschweigen, was sich in meinem Unterbewusstsein immer wieder aufs Neue abspielt, wenn ich auf potenzielle Partner*innen treffe.

Milli und ich: Prozesse der Selbstwerdung

Ich möchte lieber ehrlich mit mir sein und über die Versprechungen reden, die ich mir von dieser konkreten Partnerwahl mache. Von der vermeintlichen Aufwertung und Legitimation meiner Existenz in diesem Land. Ich möchte auch die strukturellen Zugänge und Sicherheiten nicht leugnen, die sich dadurch ergeben können, in eine monogame Beziehung mit einem weißen Mann einer bestimmten sozialen Klasse zu gehen – und ihn irgendwann vielleicht sogar zu heiraten.

Und ich möchte auch ein intimes Geständnis über meine kindische Hoffnung ablegen: Wäre nur einer von ihnen anders und würde die Privilegien seines Körpers mit mir teilen, wäre das weiße Patriarchat für mich weniger tödlich – und ich gerettet. Natürlich kann und werde ich keinesfalls behaupten, dass alle weiblich gelesenen oder sich so identifizierenden Geschwister diese Gefühle und Hoffnungen teilen. Ich kenne genügend Leute, die bei meinen Ausführungen sogar empört mit dem Kopf schütteln, aber auch einige, die dazu lieber beredt schweigen würden. Es ist meine ausdrückliche Absicht, offenzulegen, dass all diese Prozesse Teil einer Schwarzen deutschen Sozialisation sein können, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch sind.

Was hingegen definitiv falsch ist, sind die Bedingungen, unter denen Begegnungen mit besagten Männern teilweise vonstatten gehen: Konversatorische Einstiegsfloskeln wie etwa „Ich habe noch nie mit einer Schwarzen Frau geschlafen“ oder „Ich stehe normalerweise nicht auf Schwarze Frauen“ sagen etwa sehr viel über das vorherrschende Bild vom Schwarzen, weiblich gelesenen Körper und dessen Sexualität aus. Solche Aussagen verweisen darauf, dass meine Sexualität und Sex mit mir aus der weißen Sprecher*innenposition als anders bewertet wird. Ein weiteres koloniales Relikt, das mir zuverlässig verrät, um wen ich einen weiten Bogen machen muss.

Hast du diese Sätze allerdings oft genug gehört, beeinflusst das zwangsläufig das eigene Verhalten. Und so war ich in der Vergangenheit besonders bei weißen Männern bedürftig nach sexueller und emotionaler Bestätigung und versuchte auf diesem Weg Sicherheit einzufordern, die es so selbstverständlich nie geben kann. Wenn der Auserwählte sich nach längerer Annäherung und scheinbarer Verliebtheit keine Beziehung mit mir vorstellen konnte, stellte ich Mutmaßungen darüber an, ob es wohl daran lag, dass es zwischen uns einfach nicht klickte. Oder er meinte, mich Familie und Bekanntenkreis nicht vorstellen zu können. Oder ob ich vielleicht wirklich minderwertig war.

Mein Körper, Millis Körper: Prozesse der Befreiung

Wenn all diese auf kolonialen Einschreibungen basierenden Erfahrungen Teil meines Lebens sind, wie ist es dann überhaupt möglich, dass es Milli vor mehr als 100 Jahren gut ging?

Eine Erinnerung: Es ist der Tag nach dem Abschluss meiner ersten Konzerttour in Hamburg im Jahr 2019 und ich hatte Sex. Guten, sogar fantastischen Sex, einen Tag und eine Nacht lang. Nun liege ich nackt unten im Wohnzimmer auf der Couch, unter einer Bettdecke. Plötzlich klingelt es an der Tür und Besuch kommt herein. Sonntagnachmittag bedeutet in der Technoszene: Zeit für die Afterhour. Überall steht Alkohol, es werden Joints geraucht und es wird Musik gehört. Lautes Gelächter. Immer wieder kommen neue Leute. Ich kenne vielleicht zwei von den fast zwanzig Personen, die mittlerweile den Raum bevölkern. Alle wissen, dass ich unter der Decke nackt bin. Alle wissen, dass ich Sex hatte. Alle sind weiß. Ich bin Schwarz. Und nackt. Eine Freundin sagt zu mir: „Du siehst aus wie eine Göttin“ – ich weiß, was sie meint. Ich spüre meinen Schwarzen Körper, bin mir seiner sexuellen Kraft bewusst und mag mich gerade unheimlich gern. Zur Antwort strahle ich sie an und räkele mich. Ich bin dem weißen Blick ausgesetzt und es geht mir gut dabei.

Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“
Screenshot aus dem jüngsten Musikvideo „Sexlied“

Die Wege, die mich dorthin geführt haben, an einen Ort, wo mein Körper und meine Sexualität gänzlich mir gehören und ebenso wie mein Menschsein in keiner Weise verhandelbar sind, waren gelinde gesagt: verworren. Sicherlich war Erwachsenwerden ein großer Teil dieser Geschichte. Es bedurfte darüber hinaus aber auch einer anderen Form von Reife, die mit einer tieferen Form des Bewusstseins verknüpft ist. Nur Wissen und ein ständiges Befragen können mich letztlich befähigen, kolonialen Narrativen zu entwachsen und außerhalb dessen nach Identität zu suchen, was mir ein von außen auferlegtes Maß an zu erfüllender Menschlichkeit beschert hat. Möglicherweise wird keins meiner inneren Muster in diesem Leben je vollständig aufgelöst werden können. Aber genau wie bei transgenerationalem Trauma ist die Auflösung desselben eben auch eine Aufgabe der Folgegenerationen. Und wenn das Ziel Freiheit lautet und das Recht zu leben, muss alles dafür getan werden. Dazu gehört auch, mich und meinen Körper in Kontinuität zu Milli und ihrem Körper zu setzen.

Wenngleich ich leider noch immer gegen meine internaliserte Homophobie ankämpfe, sind meine Queerness und meine Vorliebe für Sex heute keine Geheimisse mehr. Ich verhandele meine Identität in meiner Kunst wie in meinem Aktivismus. Oft muss ich mich daran erinnern, nachsichtig mit mir selbst zu sein, weil ich weiß, dass es zu meiner Zeit keine Schwarzen Vorbilder in Deutschland gab, die mich hätten empowern können.

Gleichzeitig versuche ich sichtbarer und bewusster zu werden, um für die Generationen Schwarzer Femmes, die gerade aufwachsen, so ein Vorbild sein zu können. Natürlich schlafe ich immer noch auch mit weißen cis Männern, weil ich manche von ihnen aufrichtig mag und nichts Verwerfliches daran finde. Zumindest solang ich mir der Tatsache bewusst bleibe, dass ich dabei immer auch komplexe historische Machtverhältnisse aushandele. Meine große Liebe gilt heutzutage vor allem mir selbst und dem, was meinem Körper guttut. „I AM MILLI“ zu sagen, bedeutet für mich, in die Umrisse des Gemäldes einzutauchen, sie bis zum Rand auszufüllen und aus ihnen herauszutreten – um so vielleicht einer historischen Person ein Stück Leben zurückzugeben und ihr Andenken zu ehren.