Beitrag über Putins Politik: Nazi - Stichwortgeber für die Friedrich-Ebert-Stiftung

In der SPD herrscht im Zuge der Ukraine-Krise große Unsicherheit über den richtigen Umgang mit Russland. Nicht nur die Riege der sozialdemokratischen elder statesmen wie Egon Bahr, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder kritisiert die deutsch-russische Distanz. Auch der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, fordert mehr Verständnis für die russische Haltung. Es gibt eine Debatte, warum die russische Position trotz der autokratischen Renaissance unter Putin nicht vom Tisch zu wischen ist.

Daher publizierte die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrem Journal „Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) letzten Herbst einen Aufsatz des US-amerikanischen Politologen John Mearsheimer. Dieser, als „Realist“ in außenpolitischen Fragen bekannt, zählte darin nüchtern die Fehler des Westens in der Ukraine-Politik auf: „Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten.“ Durch ihr Verhalten sah sich Russland in seinen „strategischen Kerninteressen“ bedroht, Putin reagiere lediglich auf deren Vorgehen. Die fortgesetzte Erweiterung von Nato und Europäischer Union nach Osten sowie die Unterstützung prowestlicher Oppositionsbewegungen hätten Moskau keine andere Wahl gelassen, als die Annexion der Krim zu betreiben.

Cordon Sanitaire

Für Überraschung gebe es keinen Anlass, die russische Seite habe bereits seit den 90er-Jahren das Vorrücken des Westens an die russischen Grenzen unmissverständlich abgelehnt. Spätestens mit der Georgien-Krise 2008 sei klar gewesen, wie ernst es Russland damit sei. Mearsheimer schlug die Schaffung eines Cordon sanitaire neutraler osteuropäischer Staaten vor, um das Aneinandergrenzen der Einflusszonen abzufedern; ein unprätentiöses Plädoyer für den Verzicht auf die Osterweiterung von Nato und EU.

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Nun schob das IPG-Journal eine schrille Polemik nach, deren Verteidigung der russischen Position weit über Mearsheimers „politischen Realismus“ hinausreicht. Darin macht Gilbert Doctorow, Vertreter des privaten „American Committee on East West Accord“, die Abkehr von der preußisch-deutschen Politik nach 1945 als Hauptgrund für die Eskalation aus. Deutschland habe unter Aufgabe seiner nationalen Interessen seinen Rechts- und Wertekanon völlig an die EU angepasst und pflege zu enge Kontakte mit „hysterischen“ osteuropäischen Kleinstaaten.

Der Angriff auf die „politische Korrektheit“ des Westens weist eine merkwürdige Färbung auf. Wie schon Mearsheimer blendet Doctorow die inneren Verhältnisse eines Landes als mögliche Triebkraft für politisches Handeln aus. Politik ist hier, ganz nach klassisch konservativem Verständnis, allein Außenpolitik. In dieser Konsequenz zielt auch die Kritik des westlichen Liberalismus nur auf die Strahlkraft seines individualrechtlichen Wertekanons, nicht auf seine Wirtschaftsprinzipien. Dabei geht der Amerikaner Doctorow scharf mit dem „Katechismus der säkularen Euro-Religion“ ins Gericht, der glaube, dass „Außenpolitik auf demokratischen Werten und Menschenrechten sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhen müsse.“ Diese Prinzipien führten zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen. Autoritäre Staaten seien jedoch keineswegs sicherheitspolitische Risikofaktoren, meint Doctorow, sondern könnten durchaus Stabilität garantieren. Vielmehr stellten die „universellen Werte“ der deutschen Außenpolitik eine Bedrohung für den Weltfrieden dar. Die größte Gefahr für das deutsche Politikverständnis gehe „nicht von seinen eigenen Traditionen aus, sondern von dem, was es kürzlich aus dem Westen entlehnt hat.“ Das zielt auf Demokratisierung, Westbindung sowie den kulturellen Wandel nach 1968 und ist allerdings starker Tobak in einem sozialdemokratischen Forum.

Die Überschrift des Essays, „Die Tyrannei der Werte“, gibt Hinweis, wie sehr sich Doctorow dabei von einem deutschen Staatsrechtler und Theoretiker der Diktatur die Feder führen ließ. Carl Schmitt hatte 1959 in einem Aufsatz gleichen Titels darauf hingewiesen, dass „wertphilosophische“ Gesichtspunkte erst im deutschen Nachkriegssystem Einzug in das Rechtswesen gehalten hätten. Schmitts Text war ein ablehnender Kommentar zur deutschen Nachkriegsordnung, dessen Hauptthese lautete: „Der Drang zur Wertdurchsetzung wird hier ein Zwang zum unmittelbaren Wertvollzug.“ Doctorow wendet dies nun lediglich auf die Ukraine-Krise an. Dabei bleibt es nicht. Unverkennbar Pate für seinen Lösungsvorschlag stand das Schmittsche „Pluriversum der Großräume“, in dem die Einflusssphären der Hegemonialmächte durch „Interventionsverbot“ abgezirkelt sind. Doctorows Text orientiert sich derart ausgeprägt am Denken Schmitts, dass es intellektuell redlich gewesen wäre, ihn auch namentlich zu nennen. So obliegt es dem Leser, zu entschlüsseln, wer hier Stichwortgeber war.

Autoritäre Mythen

Letztlich kontert Doctorow unter der Fahne des Friedensfreundes die angeprangerten „liberalen Mythen“ mit autoritären, deren Stabilitätsgarantien keiner Prüfung standhalten. Seine Neuordnung Europas unter deutsch-russischer Hegemonie beschneidet wiederum die Souveränität der „kleineren“ Staaten drastisch und stellt nichts anderes als blanken Imperialismus dar. Schon ein Blick in die polnische Geschichte zeigt, warum es keine Hysterie, sondern begründete Sorge der osteuropäischen Staaten ist, in einem „eurasischen“ Bündnis zerrieben zu werden. Souveränität ist für Doctorow – wie für Schmitt – ein Vorrecht des Hegemonen, ihre Ausweitung auf alle gilt ihm als „Tyrannei der Werte“.

Diskutiert werden derartige geopolitische Vorstellungen übrigens gewöhnlich in den Reihen der extremen Rechten. So sinnvoll eine behutsame Suche nach Lösungen in der Außenpolitik ist, Doctorow und Schmitt sind kaum die richtigen Stichwortgeber für eine russlandpolitische Debatte.