Berlin bewegt sich: Zum Start der Eislaufsaison – Ein Selbstversuch auf der langen Kufe.

Berlin - Auf dem Weg zum Wilmersdorfer Eisstadion muss ich an Gunda Niemann-Stirnemann denken, an Claudia Pechstein und Anni Friesinger: Wie sie in ihren hautengen Anzügen mit langen ruhigen Schritten über das Eis gleiten, den Oberkörper weit vorgebeugt, in den Kurven den inneren Arm auf den Rücken gelegt, während der äußere mitschwingt. Elegant und rasant wirkte das immer im Fernsehen. Spitzenläufer erreichen eine Geschwindigkeit von 48 Kilometer pro Stunde, im Sprint manchmal kurzzeitig sogar 60 km/h, habe ich bei der Vorbereitung auf meine Schnupperstunde im Eisschnelllauf gelesen.

Brotmesser unterm Schuh

Auf dem 400-Meter-Ring des Horst-Dohm-Eisstadions in Wilmersdorf drehen an diesem Montagnachmittag schon ein gutes Dutzend Läufer ihre Runden. Einige tragen dünne Ganzkörperanzüge, andere normale Laufklamotten. Zwei Männer sind unglaublich schnell unterwegs, sie fahren ganz eng hintereinander – wie beim Speedskaten.

„Man ist so viel schneller als beim normalen Laufen, das macht Spaß“, sagt Herbert Mollien. Der 68-Jährige ist der Obmann, also eine Art Präsident, der Eisschnellläufer im Berliner Eissportverband. In seiner Hand hält er die Schlittschuhe für mich: Ihr Leder ist weich und dünn, der Schuh endet unterhalb des Knöchels, die Kufe ist vielleicht 40 Zentimeter lang – viel länger als bei einem Kunstlauf-Schlittschuh. Sie hat vorne auch keine Zacken und scheint deutlich dünner, wirkt fast wie ein Brotmesser unterm Schuh.

Barfuß schlüpft Herbert Mollien in seine Schlittschuhe. „Da hat man ein besseres Gefühl“, sagt er. Als er sich erhebt und Richtung Eisbahn geht, macht es bei jedem Schritt „Klack“. Seine Schuhe haben bewegliche Kufen, arrettiert sind sie mit einem Klappgelenk unter dem Vorderfuß, die Ferse kann man abheben wie beim klassischen Langlauf. „Klack, klack, klack“ – Herbert Mollien ist schon fast auf der Eisbahn. Nichts wie hinterher!

Zu diesem Zeitpunkt bin ich noch frohgemut und zuversichtlich: Schlittschuhe sind mir vertraut, die Bewegung auf dem Eis auch. So groß kann der Unterschied zwischen Kunstlauf- und Schnelllauf nicht sein, denke ich. Und freue mich schon auf das Gunda-Anni-Claudia-Gefühl.

Doch schon der erste Schritt auf dem Eis ist anders als gedacht. Meinen Füßen fehlt der Halt der knöchelhohen Schlittschuhe, oft knicken meine Sprunggelenke nach innen ein, dann beginnen auch noch meine Knie zu zittern. Ich traue mich kaum, einen Schritt zu machen.
Herbert Mollien nimmt mich an der Hand, gemeinsam tasten wir uns am äußeren Rand des Rings entlang, während innen die Profis vorbeiflitzen. Wir kommen dagegen nur im Schritttempo voran – an Gleiten, Flitzen, Sprinten ist nicht zu denken.

Ein kleines Mädchen läuft von hinten heran, schaut uns kurz zu und fragt mich dann: „Dein erstes Mal auf Langkufen?“ Die Siebenjährige erzählt, dass ihr der Umstieg vom Eishockeyschuh auf die Schnelllaufkufe auch nicht leichtgefallen ist. Aber jetzt merkt man davon nichts mehr: Isabel stakst mit energischen Schritten im Sprint davon. Etwas neidisch gucke ich dem Mädchen mit dem BSV-92-Überzieher hinterher.

Der Berliner Sportverein (BSV) von 1892 ist einer von sieben Vereinen mit Eisschnelllaufabteilung in der Stadt. Die des Berliner TSC ist mit rund 200 Mitgliedern die größte, die mit elf Angehörigen kleinste ist die der Eisbären Juniors. Dort ist aber Berlins prominenteste Eisschnellläuferin Mitglied: die fünffache Olympiasiegerin Claudia Pechstein.

Aber auch der BSV von 1892 hat Spitzenathleten in seinen Reihen: Lukas Mann, seit Februar Junioren-Weltmeister über die 5 000-Meter-Distanz. Herbert Mollien erzählt begeistert von dem 20-Jährigen, schließlich ist er obendrein der Vorsitzende der Eisschnelllaufabteilung des BSV, die er 1978 mitgegründet hat. Über den Hochschulsport sei er einst zum Eislauf gekommen. Als das Wilmersdorfer Stadion 1974 eröffnet wurde, war Mollien schon dabei.

Nach unserer ersten Runde führt er mich zur Bande. Wir halten uns dort fest. Nebeneinanderstehend zeigt er mir, wie sich die Beine bewegen müssen, wie der Abstoß funktioniert und das Bein anschließend korrekt wieder nach vorne kommt. Etwa ein Jahr dauere es, bis ein Anfänger gut eisschnelllaufen könne, sagt er. Ich konzentriere mich auf das Gezeigte und wage eine neue Runde, diesmal allein.

Es geht etwas besser, fühlt sich aber immer noch wackelig an. „Geh mehr in die Knie, beug dich nach vorn“, ruft mir mein Privattrainer zu. Dann läuft Herbert Mollien ein paar Meter vor mir, ich versuche, seine Bewegungen zu imitieren, lege wie er eine Hand auf den Rücken.

Fliegen oder Fallen

„Das sieht schon viel besser aus“, ruft mir Gertraud Budde zu, die ich in der Umkleidekabine kennengelernt habe. Sie sei vom Eiskunstlauf und Eistanz vor mehr als zehn Jahren zum Eisschnelllauf gekommen. „Es fühlt sich an wie fliegen“, schwärmt die Frau, die bei internationalen Wettkämpfen in der AK 70 startet.

Dieses Gefühl will sich bei mir gerade noch nicht so recht einstellen. Statt Fliegen denke ich ans Fallen. Aber ab und an gelingt es mir, für eine Sekunde oder zwei, auf einem Bein zu gleiten. Ich erinnere mich, was mir Isabel zugerufen hat: „Du musst dein ganzes Gewicht auf das eine Bein verlagern, das andere muss ganz leicht sei.“ Dann versuche ich, das freie Bein so nach vorne zu führen, wie Herbert mir das an der Bande gezeigt hat. Und wie ich es aus den Fernsehübertragungen kenne.

Ich bekomme zumindest eine Ahnung, wie es sich anfühlen könnte, wenn man die Technik beherrscht.