Rainald Goetz: Wie mir ein Auftritt des Schriftstellers durch die Lappen ging
Nach längerer Abstinenz ist der Schriftsteller Rainald Goetz wieder öffentlich aufgetreten. Kurze Geschichte eines Versäumnisses.

Die Kulturtechniken der Selbstbehauptung sind inzwischen derart gut eingeübt, dass ein Gefühl wie Scham kaum noch eingestanden wird. Es ist jedenfalls schon eine Weile her, dass ich die Redewendung gehört habe, der zufolge jemand in den Boden versinken möchte. Dabei sei Scham ein heißes Gefühl, schreibt jedenfalls der Soziologe Sighard Neckel in einer allerdings schon etwas älteren Studie über die „soziale Gestalt eines existenziellen Gefühls“. Scham sei rot, so Neckel, ein Signal. „Sie wühlt uns innerlich auf, weil sie uns nach außen hin sichtbar und durchlässig macht. Scham ist wie eine Wunde am Selbst.“
Und so verspürte ich dumpfen Schmerz, als ich unlängst einer Kollegin eingestehen musste, einen Termin verschwitzt zu haben. Eben noch bereit zur Empörung, einen Auftritt des Schriftstellers Rainald Goetz nach dessen langer öffentlicher Abstinenz nicht der redaktionellen Beobachtung ausgesetzt zu haben, blieb diese mir im Halse stecken. Ich fand eine Einladung in meinem E-Mail-Postfach, hatte diese aber übersehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als neidvoll die Berichte in anderen Blättern zu lesen. Rainald Goetz hatte im Berliner Wissenschaftskolleg die Zeitschrift als soziale Energie geheiligt, es fielen Worte wie Freude an Autorschaft, Hochdruck des Schreibens und dass man zum Verstehen anderer Menschen den realen Kontakt mit realen Körpern brauche. In meiner Facebook-Blase entspann sich ein Disput, ob Rainald Goetz nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Josef Ratzinger habe.
Aus einer anderen Zeit
Selbst als ich darüber eingeschlafen war, ließ mich die Scham über mein Versäumnis nicht los. Ich träumte, dass Rainald Goetz mir exklusiv eine Privataudienz gewährte, die sich dann jedoch als Videoaufzeichnung aus den 80er-Jahren entpuppte. Selbst mein Traum, so deutete ich träumend, schlug mir noch ein Schnippchen. Der authentische Goetz, er war mir schon wieder entwischt.
Oder kam er mir aus einer ganz anderen Zeit entgegen? In den letzten Tagen habe ich abends immer noch ein paar Seiten in den Tagebüchern von Michael Rutschky gelesen, dessen erster Band „Mitgeschrieben“ eine Art Porträt des Künstlers (Goetz) als junger Mann ist. Einmal berichtet er dem Ehepaar Rutschky davon, wie er sich den Verlegern Unseld und Neven DuMont gegenüber derart verhalten habe, als solle sein Buch, der Roman „Irre“, gar nicht erscheinen. Goetz, so Rutschky, haderte mit seinen Fluchtimpulsen. Kein Zufall also, dass er mir selbst im Traum entwischte.