"Berlin ist die letzte der großen Städte, die noch einen Vibe hat"
Berlin - Man soll ihn bitte nicht Adrian nennen, gibt einem die Plattenfirma mit auf den Weg in den Freiluft-Club Birgit & Bier am Kreuzberger Schleusenufer, den sich Tricky als Treffpunkt ausgesucht hat. Adrian Thaws ist zwar Trickys Taufname, aber außer seiner Großmutter, sagt er, nennt ihn niemand so. Tricky also. Er wurde 1968 als Sohn eines Jamaikaners und einer Britisch-Guayanerin in Bristol geboren. In den frühen 90er-Jahren erfand er zusammen mit Massive Attack den britischen Soul neu – das Magazin Mixmag fand dafür 1994 den Begriff TripHop, der sich bald als Genrename etablierte. Tricky selbst mag ihn nicht. Er ist auch lang darüber hinaus; mit seinen Platten, aber auch als Schauspieler, Film- und TV-Komponist ist er längst eine eigene Marke. Seit gut zwei Jahren lebt er in Berlin. Kürzlich erschien sein elftes Soloalbum „Ununiformed“. Mit einem Heimspiel im Festsaal Kreuzberg startet er nächste Woche zu einer Tour durch Deutschland.
Herr Tricky, „Ununiformed“ scheint eine der sparsamsten und kargsten Platten Ihrer Karriere zu sein.
Nein. Mein zweites Album, „Nearly God“ war noch viel karger.
Haben Sie einen bestimmten ästhetischen Ansatz im Kopf, wenn Sie ins Studio gehen?
Nein, ich plane das nicht. Ich fange mit ein paar neuen Ideen an, aber ich komme auch gerne auf ältere Sachen zurück. Oft verändert sich der Blick auf die Dinge mit der Zeit: Da kann dann etwas, das ich früher zu blass fand, plötzlich einen total interessanten Aspekt bekommen – das erkennt man manchmal erst im Kontext mit neuen Stücken. Manchmal finde ich auch eine Stimmspur oder etwas anderes, das ich vergessen habe, und dann kriege ich Lust, das auszuarbeiten. Ich denke höchstens mal daran, dass etwas live funktionieren soll: Wenn ich hier diesen Sound habe, dann muss entsprechend dort der Chorus so aufgebrezelt werden, sowas in der Art.
Manche Ihrer Alben wirken eher wie Songsammlungen, andere – wie dieses – haben einen durchgehenden Vibe und klingen nach einer Dramaturgie.
Sowas ist Zufall. Ich habe keine Strategie.
Wenn ich ehrlich bin: Ein Album schafft sich eigentlich selbst. Du entscheidest dich für den Anfang, und dann sagt es dir, wo es lang geht, wie der nächste Song aussehen muss. So ist das auch mit den Lyrics: Wenn du Musik hast, dann kommen die Texte von selbst.
Sie haben das Album in Berlin eingespielt, aber auch zwei russische Rapper dabei, die Sie in Moskau aufgenommen haben. Wie kam es denn dazu?
Ich war oft in Russland, und wenn ich in einem Land toure, dann höre ich mir an, was sie dort für Musik machen. Bei einer Tour, bestimmt zehn Jahre oder so her, habe ich auf dem Flughafen diesen Basta kennengelernt, der ein Label hat und Fan von mir ist. Wir haben beschlossen, mal was zusammen zu machen, und jetzt hat es geklappt.
Was rappen die Russen denn so?
Ich verstehe kein Wort. Aber man kann ja spüren, was passiert, spürt den Vibe, die Energie, den Flow.
Sie lassen auch diesmal wieder einen Großteil der Texte von Frauen singen, von Vertrauten wie Martina Topley-Bird oder Francesca Belmonte, und wie meist auch von Nachwuchstalenten.
Ja, ich besetze immer gerne Frauen in der Männerolle, sie zeigen Stärke, und die Männer sind die Schwachen. Als ich klein war, war einer meiner Onkel zu 30 Jahren, ein anderer zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Ich habe meinen Vater nie gesehen, er hat sich nie gemeldet, und ich bin bei meiner Großmutter und Tante aufgewachsen. Ich habe gesehen, wie die sich geprügelt haben, wie meine Großmutter meiner Tante den Arm wegen eines Stückchen Fleisches gebrochen hat. Frauen sind für mich tough. Sie haben mir zu Essen gegeben, haben mich angezogen, haben mich zum Boxen geschickt. Frauen halten alles zusammen, packen Essen auf den Tisch, beschützen die Kinder – das hat kein Mann für mich getan.
Manche Ihrer Alben haben sehr persönliche Titel, wie „Maxinquaye“, ihr Debüt, das nach Ihrer Mutter benannt ist, „Knowle West Boy“, nach dem Viertel in Bristol, in dem Sie aufwuchsen, oder „Adrian Thaws“, das Ihren Namen trägt. Andere heißen „False Idols“ oder nun „Ununiformed“. Sind dann die Themen weniger persönlich?
Nein, das kann man so nicht sagen. Albumtitel aussuchen macht mir einfach Spaß, und sie kommen immer erst zum Schluss. Am Ende kann es sein, dass ich irgendwas in einem Buch lese oder in einem alten Dokumentarfilm sehe, das mich inspiriert.
Ist „Ununiformed“ nicht programmatisch zu verstehen?
Doch, das spricht schon für sich selbst. Die meiste Musik heutzutage ist uniform. Früher gab es immer Unterschiede in Rock, HipHop, was auch immer, heute hat man nur noch einen uniformen Pop, und die meiste Musik ist einfach totproduziert.
Früher war alles besser?
Früher konnte konnte man einen Unterschied zwischen den Künstlern erkennen. Bob Marley etwa, David Bowie, das waren sehr individuelle Künstler. Natürlich gibt es guten HipHop, guten Reggae, guten Rock. Aber es gibt keinen Kurt Cobain, keine neue Polly Harvey, keinen Gregory Isaac. Ich saß mal mit einem Freund in London zusammen, der mir erzählte, dass Chris Blackwell ...
...der legendäre Gründer von Island Records und Entdecker unter anderem von Bob Marley und Roxy Music.
Chris Blackwell, der im Übrigen auch meine erste Platte herausgebracht hat, soll jedenfalls gesagt haben: „Tricky ist der Letzte.“ Ich habe lange nicht verstanden, was er meinte, und er meinte nicht: der letzte gute Künstler. Sondern der letzte mit einer eigenen Identität, mit einem eigenen Sound. Tom Waits ist ein Freund von mir – wir verstehen uns, weil auch er diesen eigenen Sound hat. Niemand klingt wie Tom Waits.
Was ist mit den jungen HipHop-Stars wie Vince Staples oder Kendrick Lamar?
Kendrick Lamar oder Vince Staples sind bestimmt feine Künstler, aber sie klingen eben so, wie HipHop jetzt klingt. Oder nehmen wir Jay-Z: Er ist nicht deswegen noch immer dabei, weil er so talentiert ist. Sondern weil er den Finger am Puls hat und weiß, worauf die Leute ansprechen. Ich bin das Gegenteil. Ich habe keine Ahnung, worauf die Leute abfahren. Ich mache einfach, was ich mache. Man sieht das an Alben wie „Angels With Dirty Faces“ und „Pre-Millenium Tension“ – als sie Ende der 90er rauskamen, kamen sie nicht gerade gut an. Heute sind es Klassiker.
Den speziellen und speziell düsteren Tonfall dieser frühen Tage pflegen Sie noch immer. Wie halten Sie ihre Welt so dunkel?
Oh, Mann. Neulich hat mich jemand gefragt: Glauben Sie, das würde sich ändern, wenn Sie mal an einen sonnigen Ort ziehen würden? Also, meine ungefähr erste Kindheitserinnung ist der Anblick meiner Mutter in einem Sarg. Ich habe so viel Dunkelheit erlebt. Ich habe bei meinen Großeltern gelebt, und mein Großvater hat mich ständig verprügelt. Mein Cousin musste mich da rausholen, dann habe ich bei meiner Tante gelebt, später bei meinem Cousin. Ich habe viel Gewalt gesehen. Meine Onkel haben sich mit dem Messer verletzt, meine Cousins haben sich grundlos halbtot geprügelt. Ich werde immer noch nervös, wenn ich eine Schlägerei sehe.
Sie haben auch diesmal wieder eine enorme Auswahl an bösen und bedrohlichen Sounds und Themen wie „Dark Days“ und „When We Die“.
Wissen Sie, meine Mutter und auch meine Großmutter, die haben in der Sonntagszeitung immer als erstes die Todesanzeigen gelesen: „Oh, schau, wer nebenan wieder gestorben ist.“ Ich habe mit 15 einen Selbstmord gesehen. Jemand ist von einem Parkhaus gesprungen. Ich stand mit meinem Freund Maloney an der Bushaltestelle und dachte, jemand hätte eine Schaufensterpuppe vom Dach geworfen – ich konnte nicht glauben, dass ein menschlicher Körper so einen Sound erzeugen kann. Ich hab gebrüllt: „Ihr blöden Idioten!“ Maloney sagte: „Schau, da kommt Blut aus den Ohren.“ Der Körper war derart verbogen, dass er nicht menschlich gewirkt hat. Jedenfalls wurden wir später noch interviewt und landeten auf dem Titel der Evening Post. Meine Großmutter hat das ausgeschnitten und an den Kühlschrank gehängt – ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich einen Fußballpokal gewonnen. Ich nehme also an, dass ich den Hang zum Morbiden von ihr habe.
Dabei glimmt doch hinter den lauernden und drohenden Sounds auch eine gewisse Hoffung, nicht?
Ich glaube, das ganze Leben ist „beautifully sad“, auf schöne Weise traurig. Egal, wie stabil und glücklich es verläuft: Jeder verliert irgendwann jemanden, jeder bekommt irgendwann sein Herz gebrochen, jeder lernt irgendwann die Dunkelheit kennen. Und für mich ist meine Musik wie das Leben: schön traurig. Und das heißt ja auch nicht, dass ich nicht glücklich wäre. Mir geht es richtig gut zur Zeit. Meine ganze Familie ist klasse. Ich bekomme auch keine Depressionen mehr, wenn ich an meine Mutter denke. Und ich fühle mich großartig in Berlin.
Warum sind Sie denn nach Berlin und nicht irgendwohin, wo die Sonne scheint?
Das Problem ist, dass an den sonnigen Orten meist nicht viel los ist. Aber als ich das erste Mal in New York war und die Stadt von der Brooklyn Bridge aus im Taxi gesehen habe, da dachte ich: Wow, unglaublich. Fünf Jahre später habe ich nicht mal mehr aus dem Fenster geschaut. In L.A. das gleiche, in London, in Paris, das sind irre Städte, aber wenn ich nicht mehr neugierig bin und Lust habe, mich umzuschauen, dann hilft es ja nichts. Dann muss ich weg. Ich brauche Inspiration. Und Berlin ist die letzte der großen Städte, die noch so etwas wie einen Vibe hat.
Sie haben ja, seitdem Sie 1999 auf der Flucht vor dem Rummel in Großbritannien für acht Jahre in die USA zogen, in etlichen Metropolen gelebt.
Ja, und ich liebe London wirklich. Ich habe auch New York geliebt. Und ich habe Los Angeles geliebt. L.A. ist zum Beispiel immer noch toll, wenn du dort etwa als Schauspieler zu tun hast und eingespannt bist. Für einen Musiker ist Berlin die letzte verbliebene Stadt, weil es hier noch nicht ausschließlich um Geld geht, der Alltag, die Atmosphäre, das ganze Leben noch nicht ausschließlich monetär orientiert ist. Städte, die auf Geld basieren, tun einem Musiker nicht gut.
Von der Gentrifizierung, die den Berliner zur Zeit so beunruhigt, spüren Sie nichts?
Neulich habe ich meine Schlüssel zu Hause vergessen. Es war halb elf Uhr nachts. Ich dachte: Was zum Teufel mach ich jetzt? Ich bin also ins Michelberger Hotel, aber die waren voll. Ein Taxifahrer meinte dann, er würde mich einfach rumfahren, bis wir was gefunden hätten. Es hat nicht lang gedauert. Ich hab eingecheckt, bin runter in einen Kebabladen, hatte ein Bier, hab was gegessen, bin zurück und hab geschlafen. In London hätte das so nicht funktioniert. Wo ich gewohnt habe, da hätte ich die halbe Nacht gebraucht, um überhaupt bis zu einem Hotel mit freien Betten zu kommen.
Hat denn die Stadt einen Einfluss auf Ihre Musik?
Nein, nicht so direkt, aber sie hat trotzdem geholfen. Wenn ich in L.A. oder London bin, dann treibe ich mich nachts herum, ich gehe aus in Clubs und so – weil mein Tag nicht ausgefüllt ist. In L.A. will ich natürlich auch ein Auto, obwohl ich gar keinen Führerschein habe und es auch nicht meinem Wesen entspricht. London wiederum ist eine reine Touristenstadt, man kann da shoppen, in Restaurants gehen, sonst aber nicht viel. Berlin hingegen ist eine Stadt, die lebt und atmet, und das auch tagsüber. Da ist mein Tag ausgefüllt. Ich koche, ich arbeite was, und wenn es Nacht wird, bleibe ich zu Hause. Ich gehe um elf ins Bett und kriege entsprechend viel auf die Reihe. In London gehe ich aus – weil ich mich tagsüber langweile. Verstehen Sie? Als ich das letzte Mal in London gelebt habe, war ich bis morgens um sieben in den Clubs, und ich habe es gehasst. Ich meine: Wie kann man um drei in einen Club gehen, bis sieben bleiben und es blöd finden? Da ist doch was faul.
Eigentlich finden viele Leute Berlin ja gerade wegen der Clubszene so spannend.
Wenn ich hier ausgehe, dann, weil ich es will. Das war in den zwei Jahren, die ich hier lebe, genau zwei Mal. Einmal (er zeigt auf den Mann von der Plattenfirma, der ihn zum Interview begleitet hat) war ich mit ihm in einem Schwulenclub. Und einmal hatte ein Freund einen Auftritt. Ich habe hier sogar ein Fahrrad! Ich hatte seit meiner Kindheit kein Fahrrad mehr. Ich fahre mit dem Fahrrad herum und laufe durch die Stadt, man sieht mich überall zu Fuß herumlaufen. Und abends ist es dann gut.
Sie sind nach Berlin gekommen, um vor allem Ihre Ruhe zu haben?
Das ist ungewöhnlich, ich weiß. Berlin hat zwei Seiten. Du kannst hier natürlich feiern wie verrückt und tagelang durchmachen. Aber es geht eben auch extrem entspannt zu. Sogar kleine Kinder können hier auf der Straße Fahrrad fahren, die Leute essen dauern zusammen zu Abend ... es gibt eine sehr langsame Seite. Außerdem ruft mich keiner an, um auszugehen. Ich kenne nämlich niemanden!
Spüren Sie, dass sich das Klima gegenüber Ausländern, zumal dunkelhäutigen, wegen der Flüchtlingsthematik verschärft?
Für mich ist das Angenehme in Berlin, dass es so viele Charaktere gibt – du fällst überhaupt nicht auf. Ich habe in London mal in Hampstead gewohnt. Eines Tages habe ich eine Frau beim Einparken gesehen, offenbar zu Besuch. Sie und der Wagen sahen nicht aus, als ob sie in die teure Gegend gehörten. Aber sie hat ihre Autotüren von innen verriegelt, als sie mich aus dem Haus kommen sah. In Berlin bin ich einmal, da war ich noch ganz neu, im Winter so gegen acht aus einem Bioladen gekommen. Es war also schon Nacht, und die Straßen hier sind ja oft ziemlich dunkel. Ein Frau kam mit mir auf die Straße, sie hatte zwei Kinder dabei, war mit Einkaufstüten vollgepackt – und sie fing ganz selbstverständlich an, mit mir über alles mögliche zu plaudern. Ich musste sofort meinen Cousin Mischa anrufen und es ihm erzählen.
Sie haben in Interviews schon öfter den Klassenaspekt vor den ethnischen gesetzt. Wie war das denn in ihrer Jugend?
Ich bin in einem weißen Ghetto aufgewachsen. Meine weißen Freunde wurden dauernd von der Polizei kontrolliert und von den Polizisten verprügelt. Wenn wir zusammen ausgingen, waren es oft sie, die nicht in die Clubs durften: Das hatte nichts mit der Hautfarbe zu tun – sie kamen aus Knowle West. Wenn du von dort kommst, dann kriegst du auch keinen Job. Wenn ich also irgendwo ausgeschlossen wurde, dann dachte ich nicht an meine Hautfarbe. Natürlich habe ich auch Rassismus abbekommen, aber ich habe gelernt, dass Diskriminierung auch auf einem Klassensystem beruht, nicht nur auf der Hautfarbe.
Und was heißt das für Sie?
Ich bin neulich mal mit meiner Sängerin Francesca Belmonte am Flughafen gefilzt worden. Sie war entsetzt und hat sich fürchterlich aufgeregt, sie ist weiß. Ich fand das nicht schlimm. Ich dachte nur: Die können mich halt nicht leiden. In L.A. war ich mal mit zwei Kumpels unterwegs, beide Hispanics, und wir wurden angehalten, zwei weiße Cops, ein schwarzer. Die Weißen sahen aus wie typische Nazis. Ich dachte: Mann, jetzt geht’s uns an den Kragen. Aber die waren richtig cool. Nur der schwarze Polizist hat uns als Schwuchteln beschimpft und erniedrigt. Sehen Sie, nichts ist einfach schwarz oder weiß: In jeder Gesellschaft, in jeder Organisation gibt es freundliche und miese Menschen. Wenn man sich das nicht vor Augen hält, dann belastet es das ganze Leben.
Das Gespräch führte Markus Schneider.