Verhaltensfrage: Darf ich einen stinkenden Menschen aus dem Bus werfen?
Horror im Bus. Nach dem würgereizauslösenden Gestank, den ein Mann verbreitete, hätte man sich hinterher wegen des schlechten Gewissens übergeben können.

Es ist dunkel, es ist kalt, der Bus kam spät, aber er kam, und ich fand sogar noch einen Sitzplatz. Der Vorfall ereignete sich noch zu Zeiten, in denen das Tragen von Mundnasenschutzen im öffentlichen Nahverkehr Vorschrift war. Es dauerte also ein bisschen, bis die Luft durch die FFP2-Filter drang, und als ich erste olfaktorische Irritationen bemerkte, überlegte ich kurz, was ich gegessen hatte.
Mit der nächsten Wahrnehmungsstufe wurde mir klar, dass der Geruch von Ausscheidungen herstammen musste, und ich überprüfte unauffällig meine Schuhsohlen, auch weil erste Mitpassagiere irritiert auf- und sich suchend umblickten, weil ihnen offenbar auch etwas in die Nase kroch. Manche nahmen zum besseren Prüfen die Maske ab, setzten sie dann aber schnell wieder auf. Meine Schuhe waren nass, aber halbwegs sauber, was mich erst erleichterte. Leider ließ der Geruch aber nicht nach, sondern gewann an einer nicht mehr zu überspielenden Intensität, Gemurmel wurde laut, sogar Gewürge. Auch mir wurde schlecht, ich kontrollierte meinen Atem, dachte darüber nach, zu Fuß zu gehen, was mich eine halbe Stunde gekostet und durchnässt hätte.
An einer Choreografie der Blicke ließ sich schließlich die Ursache ablesen. Sie landeten alle auf einem alten Mann, der auf seinem Rollator Platz genommen hatte. Er tropfte, hatte die Augen geschlossen, murmelte leise vor sich hin, versuchte sich aufrecht zu halten und schien dabei die Wärme des Busses zu genießen.
Die Kommentare wurden lauter und deutlicher, Kinder hielten sich die Nase zu und kicherten vor Entsetzen. Ich musste blöderweise an den Film „Eissturm“ denken, in dem es einen bewegenden Monolog des von Tobey Maguire gespielten autistisch veranlagten Jungen gibt, der auf die Tatsache hinweist, dass das, was wir als Geruch wahrnehmen, Moleküle der Substanz enthält, die den Geruch verströmt. Pestilenzialisch lautet das zutreffende Attribut, und was verpestet wurde, war nicht nur die Luft, sondern auch das auf Toleranz und Ignoranz bauende Miteinander von Großstadtmenschen.
Ohne Rücksicht auf die Gefühle des Stinkenden – darf man jemanden überhaupt so bezeichnen oder reduziert man seine komplexe Individualität damit auf diese eine Eigenschaft? – wurden Fenster aufgerissen, die am Beginn unterdrückten Ekel- und Würgegeräusche nahmen zunehmend auch Signal- und Anklagecharakter an. Das ging eine Weile so, die Aussteigenden wurden beneidet, Einsteigende schnell in die Schicksalsgenossenschaft eingemeindet.
Irgendwann stiegen eine junge Frau und zwei Männer zu, die – das nur am Rande – keine Masken, aber offene Bierflaschen mit sich führten und ausgelassener Stimmung waren. Die Tür hatte sich noch nicht hinter ihnen geschlossen, als sie zu krakeelen und zu schimpfen begannen. Die Frau schickte sich an, dem Stinkenden vor die Füße zu kotzen, und schrie beim Luftholen nach dem Busfahrer, der das „widerliche Schwein“ rausschmeißen solle.
Der Busfahrer tat, wie ihm geheißen. Er kam aus seiner Kabine, schob sich mit den Worten „Du hast gehört, was die Dame sagt“ durch den Gang. „Muss ich aussteigen?“, fragte der Stinkende. „Ja, du musst aussteigen. Such dir eine Dusche.“ Der Mann erhob sich, wackelte auf unsicheren Beinen die Stufe herunter, raus aus dem Bus, allein in den nächtlichen Regen. Keiner, der sich erhebt, um dem Mann zu helfen? Man muss ihn ja nicht gleich mit nach Hause nehmen. Hat der Busfahrer keine Rufnummer für einen sozialen Dienst? Wieso bleibe ich sitzen? Die Luft wurde schnell besser, aber dafür stank es nach schlechtem Gewissen und Faschismus.