Entschleunigung ist nicht das richtige Wort. Vollausbremsung schon eher. In Tsai Ming-liangs knapp einstündigem „Xi You“ (Journey to the West) bewegt sich dessen Lieblingsdarsteller Lee Kang-sheng in der Tracht eines buddhistischen Mönchs im Schneckentempo durch Marseille. Buchstäblich. Kaum merklich ist sein Vorankommen, kaum wahrzunehmen, wie sich das Gewicht des Körpers verlagert, wie der eine Fuß den Boden verlässt, sich am anderen vorbei bewegt, sich schließlich vorsichtig wieder setzt.
Bewegungen wie in Superzeitlupe, nur sind diese eben nicht technisch hergestellt. Nicht der Film ist verlangsamt, es ist der Mensch im roten Gewand. Um ihn her herrscht normales Tempo, die Hektik einer Großstadt, Passanten eilen vorbei, kaum einer lässt sich irritieren. Im Moment des Vorübergehens mag der Mönch den meisten statisch erscheinen. Doch zentimeterweise geht es voran. So zu gehen, erfordert ungeheure Disziplin, dem Zuschauer teilt sie sich als Anspannung mit. Lee hält den Kopf gesenkt und die Hände in einer meditativen Geste, er ist ein fleischgewordenes Zeichen der Konzentration und Versenkung.
„Xi You“ ist der sechste einer Reihe von Filmen, die unter dem Obertitel „The Walker“ entstanden und ihren Ausgang 2011 in einer Aufführung von Tsais Theaterstück „Only You“ nahmen, in der Lee außerordentlich langsam die Bühne querte.
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Die Figur des Mönchs bezieht sich auf den aus China stammenden Pilgermönch Xuanzang, der sich im siebten Jahrhundert auf eine viele Jahre währende Reise über die Seidenstraße nach Indien machte, um den Buddhismus in dessen Ursprungsland zu studieren und anschließend in seiner Heimat weiter zu verbreiten. Xuanzang übersetzte zahlreiche heilige Schriften aus dem Sanskrit ins Chinesische, hinterließ eine bedeutende Reisebeschreibung und ist seinerseits die Hauptfigur des klassischen chinesischen Romans „Die Reise nach dem Westen“.
Absolute Gegenwart
Man muss das nicht unbedingt wissen, um die Bedeutung des meditativen Experiments „Xi You“ zu erfassen. Jeder, der schon einmal über Streß geklagt hat, begreift unmittelbar, was sich hier darstellt: absolute Gegenwart, Dasein im Moment, Existenz in Reinform. Leben – das ist Atem und Wahrnehmung.
Bedauerlicher- wenngleich wenig überraschenderweise trifft der Vorschlag des Innehaltens und Sichbesinnens, den der Zeitlupenmönch verkörpert, in seiner Umgebung auf wenig Resonanz. Immerhin in zwei, naturgemäß, ziemlich langen Sequenzen passiert mehr als der scharfe Kontrast von langsam und schnell: In der einen steigt der Mönch eine Treppenpassage, die zwei Gassen miteinander verbindet, hinunter. Der Gang ist eng, die Passanten müssen an dem befremdlichen Phänomen, das hier dem reibungslosen Auf und Ab dann doch ein wenig im Wege ist, vorbei. Manche bleiben stehen, tauschen sich aus, mutmaßen. In der zweiten bewegt er sich auf einem belebten Platz an einem gut besuchten Straßencafé vorbei. Aus den unbeteiligten Kaffeetrinkern wird ein Publikum.
Und schließlich wird hinter dem Mönch ein weiterer Langsamgeher sichtbar: angeschlossen hat sich Denis Lavant, in dessen Landschaftsgesicht Tsais Kamera zu Beginn minutenlang spazieren ging. Zuschaute beim Atmen, Wahrnehmen. Bis man selbst nur noch atmete und wahrnahm.
Und immer die Angst, einer der Vorübereilenden könnte die langsamen, ach so langsamen Männer aus Versehen anrempeln und aus dem Gleichgewicht bringen. Und immer die Hoffnung, einer könnte sich, wie Lavant, den gemächlich Gehenden anschließen. So dass sich schließlich eine Kette bildete – und der allgemeinen Unruhe der Welt Einhalt geböte.
Xi You 15. 2.: 19.30 Uhr, Zoo Palast 2; 16. 2.: 17.45 Uhr, CineStar 3.