Berlinale-Wettbewerb „Big Father, Small Father“: Dein Schwanz gehört allen
Vietnam, Ende der 90er-Jahre. Das Land kämpft mit der Wirtschaftskrise, die Bevölkerung ist seit dem Kriegsende 1975 so rasant gewachsen, dass viele Jugendliche keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Vor diesem Hintergrund spielt der Film des 1976 geborenen Autorenfilmers Phan Dang Di, der erste vietnamesische Film, der je im Wettbewerb gelaufen ist.
Der Fotografiestudent Vu lebt zusammen mit anderen jungen Leuten in Saigon, in einem Haus am Fluss. Sie haben wenig Geld. Einer von Vus Mitbewohnern, Thang, arbeitet als Barmann in einem Club, auch dealt er mit Yaba, einem starken Amphetamin.
Ein anderer macht abends in Straßenrestaurants Musik, er sorgt mit seinen Liedern für die melancholische Atmosphäre im Film – seine Schwester verkauft selbst gemachte Süßigkeiten, ein weiterer arbeitet in einer Metallfabrik. Als sie Ärger mit der Mafia haben, verlagert sich die Handlung in das Dorf von Vus Vater im Mekongdelta. Der Mangrovensumpf mit seinem Dickicht an Luftwurzeln dort, wirkt wie ein Symbol für die Verwicklungen in den Seelen der jungen Menschen.
„Cha và con và – Big Father, Small Father and Other Stories“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte, in der es um sexuelle Identität und deren soziale Komponente geht. Der Arbeiter in der Metallfabrik erzählt seinen Kumpels, dass er seiner Freundin ein Handy geschenkt hat, und sie nun jederzeit mit ihm ins Bett geht – der materielle Aspekt von Sex in einem armen Land. Im Zentrum aber steht Vu, der sich in Thang verliebt. Doch Sex ist nur möglich, wenn er betrunken ist, und selbst dann schämt er sich noch. Am Nächsten kommt er Thang, als dieser von der Mafia übel zugerichtet wird, weil er das Schutzgeld nicht bezahlt hat, und Vu ihn zärtlich pflegen darf. Allein ist er dabei jedoch nicht. Auch die Freunde betupfen Thangs Wunden. Selbst sich in sein Zimmer zurückzuziehen, nützt nichts.
Die Wände sind dünn und sogar durchsichtig, große Spalte klaffen zwischen den Brettern. Blickt die Kamera durch eine dieser Öffnungen, wirken die Holzlatten auf der Leinwand wie Cinemascope-Balken. Der Mangel an Privatsphäre – einmal beobachtet gar der Vater den Sohn beim Liebesspiel – ist ein Zeichen dafür, dass Sexualität in der vietnamesischen Gesellschaft keine Privatsache ist, dass die anderen, die Gesellschaft, immer dabei sind.
Nichts könnte diese Unfreiheit, diese Einmischung stärker versinnbildlichen als das Ende des Films. Vu liegt auf einem Operationstisch, er hat beschlossen, sich sterilisieren zu lassen. Mit den 500.000 Dong (heute etwa 20 Euro), die die Regierung für diese Art der Geburtenkontrolle bezahlt, will er mit Thang die Stadt verlassen. Vu ist mit einem weißen Laken bedeckt, man sieht nur sein Gesicht und in einer viereckigen Öffnung im Laken sein schlaffes Geschlecht, orange von Desinfektionsmittel. Die Kamera blickt von oben herab auf Vu, lässt ihn ohnmächtig und allein wirken.
Cha và con và 14.2.2015: 17.30 und 15.2.: 12 Uhr, Haus der Berliner Festspiele