In der Berlinischen Galerie ist zu beobachten, was man ein kleines Wunder der menschlichen Natur nennen kann: Blinde sehen Bilder. Die Augen sitzen in den Fingerkuppen. Sie streichen über das federweiche schwarze Kleid von Eugen Spiros Art-Deco-„Tänzerin“, fahren die harten Schnittkanten von Hannah Höchs Dada-Collage „Roma“ entlang, ertasten die fast geometrischen „Körperteile von Iwan Punins „Synthetischem Musiker“.
Per Audio-Guide kommen dazu Informationen – über Entstehungszeit und Lebensumstände des jeweiligen Bildes und Malers, über die Farbigkeit und das Material: Papier, Pappe, Holz, Filz, Seide, Lack, Glas. Das gab’s hier so noch nie. Welch ein Kraftakt der Berlinischen Galerie, gerade im Landesmuseum ohne eigenen Ausstellungs-Etat. Und siehe: Es geht doch!
Ausgerechnet dieses Haus der begrenzten Mittel wird in der museumsreichen Stadt zum Vorreiter, bietet für Menschen mit Handicaps „Kunst zum Anfassen“. Möglich machten es Spenden. Und Zuwendungen der „Aktion Mensch“. Die Kooperation mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verband ist eine große Hilfe. Die Senatsverwaltung für Kultur unterstützt das Projekt.
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Lob ist angebracht. Als erstes Museum in Deutschland überhaupt nämlich stattete die Berlinische Galerie nun auch ihre Dauerschau mit Kunst von 1880 bis 1980 für sehschwache und blinde Besucher aus. In Sonderausstellungen seit 2013 hat sich das Angebot bewährt. Es spricht sich herum bei Betroffenen. Kunst anzufassen – dieser eigentlich verbotene, für Blinde aber verständlich innigliche Wunsch, wird Realität. Und erfüllt mit einem Leitsystem aus Gemälde-Reproduktionen im Relief-Format und einer ausführlichen App-Tour, gern fürs eigene Smartphone, schrittweise die Forderungen der UN-Behinderten-Rechts-Konvention.
Der „Praxistest“, wie die Museumsleute ihre Innovation nennen, besteht aus 17-App-Stationen, inklusive „Tast-Führungen“ zu Spitzenwerken der Dauerausstellung, einem 300 Meter langen, taktilen Bodenleitsystem – und vorerst sieben Tastmodellen, integriert in Sitzbänke vor den Originalen.
Mit allen Sinnen können Blinde zudem in der bald beginnenden Sonderschau über die Berliner Malerin Jeanne Mammen deren hinreißende „Revuegirls“ von 1928/29 anfassen, Formen begreifen. Mammens zwei Verkörperungen der „Neuen Frau“ galten damals als Emanzipations-Gleichnis. Nunmehr wurden sie es erneut.