Gletschersterben: „Die Erwärmung ist beispiellos“

Das Gletschersterben ist nicht mehr aufzuhalten. Für Bernhard Edmaier keine Überraschung. Seit Jahren fotografiert der Geologe das Schwinden des Alpeneises.

Morteratschgletscher, Schweiz. Seit 2003 sind hier 650 Meter Eis weggeschmolzen.
Morteratschgletscher, Schweiz. Seit 2003 sind hier 650 Meter Eis weggeschmolzen.Bernhard Edmeier

Anfang des Jahres machte die Meldung Schlagzeilen, dass wir uns in absehbarer Zeit von einem Naturphänomen verabschieden müssten, das für uns untrennbar mit den Alpen und anderen Hochgebirgen verbunden schien: ihren ganzjährigen Eiskappen, den Gletschern. Das Fachmagazin Science hatte eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht, wonach bis zum Jahr 2100 weltweit fast die Hälfte aller Gebirgsgletscher verschwinden dürfte –und zwar auch in dem inzwischen unrealistisch scheinenden Fall, dass es uns gelingt, die Erderwärmung, so wie auf der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 beschlossen, bei maximal 1,5 Grad zu halten.

Lege man der Prognose hingegen die konkreten Klimaschutzmaßnahmen zugrunde, die die Weltgemeinschaft auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021 vereinbart hat, müsste man der Studie zufolge von einem Temperaturanstieg von 2,7 Grad ausgehen. In diesem Fall dürften die Gebirgsgletscher in vielen Regionen der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts völlig verschwunden sein. Ein Gespräch mit einem langjährigen Augenzeugen dieses inzwischen gar nicht mehr so langsamen Abschieds, dem Fotografen und Geologen Bernhard Edmaier.

Herr Edmaier, erinnern Sie sich, wo Sie am 3. Juli 2022 waren?

Bernhard Edmaier: Hmm. Da muss ich jetzt mal überlegen.

Das war der Tag, an dem es an der Marmolata, dem höchsten Berg der Dolomiten, infolge ungewöhnlich hoher Temperaturen zu einem Gletschersturz kam, elf Bergsteiger starben.

Ah, richtig. Der Gletschersturz war gewaltig! Ich war kurz zuvor, Ende Juni, noch in der Gegend – ausgerechnet wegen der schmelzenden Alpengletscher: Ich war zur Druckabnahme des Bildbandes „Alpeneis“ in Trient – und in Südtirol zur Vorbereitung von Ausstellungen, die 2023 in zwei der „Messner-Mountain-Museen“ stattfinden.

Im Buch „Alpeneis“ zeigen Sie auch Marmolata-Luftaufnahmen vom Juli 2006. Hatten Sie verfolgt, wie sich der dortige Gletscher bis zu dem Sturz verändert hatte?

Nicht im Detail. Aber es ist unglaublich, wie schnell er kleiner geworden ist. Und das gilt eigentlich für alle Alpengletscher. Auf der Marmolata kann man kaum mehr von einem Gletscher sprechen. Das sind eigentlich nur noch kleinere Eisfelder. Trotzdem war der Eisabbruch groß genug für ein großes Unglück. Dummerweise verläuft die Normalroute für den Aufstieg zum Gipfel genau unterhalb des Restgletschers.

Seit wann fotografieren Sie die Gletscher der Alpen?

Seit mehr als 30 Jahren. 2003 hab ich das erste Mal intensiv Luftaufnahmen gemacht. Das war ebenfalls so ein Rekordsommer, in dem die Gletscher rasant geschmolzen sind.

Der Fotograf und Geologe Bernhard Edmaier
Der Fotograf und Geologe Bernhard EdmaierAngelika Jung-Hüttl

Wie entstehen Ihre Luftaufnahmen?

Das Gros aus dem Helikopter. Manchmal auch aus einem kleinen Sportflugzeug. Für Überblicksaufnahmen ist das ganz okay. Aber wenn es näher ans Eis rangeht, geht das eigentlich nur per Helikopter. Jetzt werden Sie wahrscheinlich fragen: Warum nicht per Drohne?

Verraten Sie es mir.

Es gibt viele Gründe. Zunächst mal komme ich an viele Bereiche, die für mich interessant sind, mit einer Drohne gar nicht ran.

Warum nicht?

Zu hoch. Ich brauche Flughöhen, die mit der Drohne nicht mehr erlaubt wären. So sind die gesetzlichen Vorschriften. Damit Drohne und restlicher Flugverkehr einander nicht in die Quere kommen. Dazu kommt, dass eine Drohne in Sichtweite fliegen muss. Das heißt, steile Gletscherabbrüche wären für mich oft unerreichbar. Und ein ganz entscheidender Punkt, gerade auch für das „Alpeneis“-Buch: In Nationalparks dürfte ich mit einer Drohne überhaupt nicht fliegen. Das geht nur per Sondergenehmigung mit dem Helikopter.

Bürokratische Gründe also.

Naja, und als Fotograf ist es mir schon wichtig, dass ich erst mal das Ganze sehe. Und dann gezielt auf meine Motive losgehe. Ich kann mir nicht vorstellen, auf so einem kleinen Bildschirm mit einer Drohne zu arbeiten. Das entspricht überhaupt nicht meiner Arbeitsweise.

Wie lange sind Sie für eine Helikopter-Fotosafari typischerweise in der Luft?

Leider sehr kurz – aus Kostengründen. Aber in den Alpen gibt’s ja sehr viele Helikopterunternehmen. Und insofern hat man relativ kurze Anflugwege. Ein normaler Fotoflug dauert eineinhalb Stunden.

Zur Person
Bernhard Edmaier ist Fotograf und Geologe. Seine Luftbilder vereinen hochkarätige Fotografie und Wissenschaft; seine Bildbände sind mehrfach ausgezeichnet worden. Für seine Buch- und Fotoprojekte reist er immer wieder in abgelegene Gegenden der Welt. Häufig begleitet ihn dabei seine Lebensgefährtin, die Wissenschaftspublizistin Angelika Jung-Hüttl. Sie entwickelt mit ihm zusammen die Fotoprojekte, verfasst die Texte zu seinen Büchern und organisiert die Fotoausstellungen.

Welche Herausforderungen gibt es bei dieser Art der Gletscherfotografie?

Luftaufnahmen im Hochgebirge sind immer ein bisschen schwieriger. Wegen der Turbulenzen. Und je nach Flughöhe ist es relativ kalt. Also: Es ist insgesamt nicht gemütlich.

Und was macht für Sie den Reiz daran aus?

Wenn man den verschiedenen Gletschern ein bisschen näherkommt … einfach irre, was das für eine Formenvielfalt ist! Allein schon die Gletscherspalten – da gibt’s ja zig verschiedene Muster und ganz bizarre Eisabbrüche. Auch die Farben des Eises: Auf den ersten Blick wirkt alles eher schmutzig weiß und grau – aber wenn man näher heranrückt, entdeckt man eine unglaublich Vielfalt an Grau- und Blautönen. Gletscher sind ein fantastisches Phänomen!

Wissen Sie, wie viele Alpengletscher Sie schon gesehen haben?

Hunderte.

Fieschergletscher, Schweiz. Im Sommer wirkt er gräulich, wegen des Gerölls, das das Eis bedeckt. Der Gletscher ist noch rund 14 Kilometer lang. In den 100 Jahren zwischen 1891 und 1991 ist er 734 Meter kürzer geworden. Von 1991 bis 2020, in nur 29 Jahren, verlor er weitere 901 Meter.
Fieschergletscher, Schweiz. Im Sommer wirkt er gräulich, wegen des Gerölls, das das Eis bedeckt. Der Gletscher ist noch rund 14 Kilometer lang. In den 100 Jahren zwischen 1891 und 1991 ist er 734 Meter kürzer geworden. Von 1991 bis 2020, in nur 29 Jahren, verlor er weitere 901 Meter.Bernhard Edmaier

Insgesamt gibt es noch rund 4400, richtig?

Das ist die offizielle Zahl. Aber es ist auch eine Definitionsfrage. Der Südliche Schneeferner an der Zugspitze zum Beispiel, der ist seit September offiziell kein Gletscher mehr. Denn ein Gletscher muss sich per Definition bewegen – ein Eisfeld, das dafür zu klein geworden und somit ortsfest ist, zählt nicht mehr. Wir hatten in Deutschland ja sowieso nur noch fünf Gletscher. Jetzt bleiben vier: Nördlicher Schneeferner und Höllentalferner an der Zugspitze, Blaueis und Watzmanngletscher in den Berchtesgadener Alpen.

Manche Alpengletscher haben Sie zweimal besucht, im Abstand von knapp 20 Jahren. Diese Bilderpaare zeigen besonders eindrücklich, wie schnell das Eis sich zurückgezogen hat.

Wir wollten das im Buch an vier, fünf Beispielen zeigen. Weil der extreme Rückgang so für den Laien sehr leicht einsichtig ist. Man sieht, wie sehr sich die Landschaft verändert.

Sie sind Geologe. Was fühlen Sie als Fotograf, wenn Sie die schnell schwindenden Gletscher sehen? Und was denkt der Wissenschaftler in Ihnen?

Der Fotograf – und der Bergliebhaber – ist extrem traurig. Denn für mich sind die Gletscher eines der tollsten Phänomene in den Alpen. Und dieses Phänomen verschwindet jetzt wirklich relativ flott. Für den Geologen ist es insofern interessant, als Landschaften sich normalerweise nur langsam verändern, in Tausenden oder Hunderttausenden oder Millionen von Jahren. Und das ist jetzt mal ein Vorgang, den man im Jahresrhythmus verfolgen und beobachten kann.

Nicht nur die oberflächlichen Gletscher schmelzen. Auch der Permafrost als „Kleber“ des Hochgebirgsgesteins taut.

Ja, die Folgen sieht man deutlich. Auf den Gletscheroberflächen liegt viel mehr Schutt. Der Steinschlag nimmt ganz markant zu. Es kommt auch zu größeren Felsstürzen, bis hin zu richtigen Bergstürzen.

Ihre Gletscherbilder zeigen ein Verschwinden. Aber auch, wie die Natur die freiwerdenden Flächen zu neuem Leben erweckt.

Wenn die Gletscher verschwinden, sind da nicht einfach nur Schutthalden. Es entstehen Seen. Relativ schnell folgt dann die Vegetation. Wenn etwas Altes geht, entsteht etwas Neues, wie überall auf der Erdoberfläche – auch das will ich mit meinen Bildern zeigen. Das ist ein ewiger Kreislauf.

Sollte man, so gesehen, auch den Klimawandel gelassener betrachten? Die Erdgeschichte ist ja von einem steten Auf und Ab der Temperatur geprägt, darauf weist Ihre Co-Autorin Angelika Jung-Hüttl in „Alpeneis“ hin.

Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten gab’s immer schon, das ist wichtig zu wissen. Aber was wir gerade erleben, ist mit früheren Temperaturschwankungen nicht vergleichbar. Die aktuelle Erwärmung ist beispiellos. Das ging noch nie so schnell. Nirgendwo kann man das so gut sehen wie an den Gletschern.

Rother Bergbverlag

Bernhard Edmaier und Angelika Jung-Hüttl: „Alpeneis. Gletscher und Permafrost im Klimawandel“. Rother Verlag, Oberhaching 2022. 224 Seiten, 49,90 Euro