Bloggerin Marie Sophie Hingst gestorben: Es gibt mehr als eine Wahrheit - ein Kommentar
Marie Sophie Hingst ist gestorben. Bereits am 17. Juli. In Dublin. Im Alter von 31 Jahren. Es wird von Selbstmord ausgegangen. Die Deutsche, die in Irland bei Intel arbeitete und nebenbei als Bloggerin und Herausgeberin tätig war, war Anfang Juni in einer Reportage des Magazins Der Spiegel als Hochstaplerin entlarvt worden.
Sie hatte sich seit 2013 in ihrem (inzwischen deaktivierten) Blog Read On, my dear, Read On fälschlich als Enkelin einer jüdischen Holocaust-Überlebenden dargestellt, für einen Aufsatz über Europa aus angeblich jüdischer Nachgeborenen-Perspektive einen Preis von der Financial Times entgegengenommen und der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem 22 Holocaust-Opfer genannt, die es nie gab.
Wenige Tage nach der Spiegel-Veröffentlichung hatte sich ein Reporter der Irish Times, Derek Scally, mit Hingst in Berlin getroffen, wie er in einem vorsichtigen und nachdenklichen Artikel vom 27. Juli jetzt berichtete. Sie machte auf ihn damals einen psychisch extrem destabilisierten Eindruck, beharrte auf ihrer jüdischen Biografie, und führte ihn am Kleinen Wannsee zum Grab von Heinrich von Kleist, den sie verehrte.
Wurden hier Umstände übersehen, die zu behandeln, nicht Sache der Publizistik wären?
Scally beschreibt eine widersprüchliche, verwirrte Person, die „Worte liebte“, sprach auch mit ihrer Mutter, einer Zahnärztin in Wittenberg, und veröffentlichte damals nichts. Wie die Irish Times auch keinen Bericht über die Enthüllung des Spiegels gedruckt hatte, obwohl Scally vorab von der Recherche erfahren und mit dem Spiegel-Reporter Martin Doerry gesprochen hatte. Unter der aktuellen Todesmeldung weist Spiegel Online standardmäßig auf Hilfsangebote für Verzweifelte hin – in der Tat fragt man sich jetzt, ob Doerry im Eifer der Überführung auf Seiten der Hochstaplerin vielleicht ein Element der Krankheit und Verzweiflung übersehen haben mag, das zu behandeln nicht Sache der Publizistik gewesen wäre.
Der Spiegel hätte ihr bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, sagte Hingst zum Irish-Times-Reporter beim Treffen am Wannsee – zu einer Zeit, in der sie auf ihren Lügen noch beharrte. Lügen, die tatsächliche Holocaust-Überlebende ja erst beleidigen konnten, als sie enttarnt waren. Was der Spiegel-Artikel beendete, war indessen die persönliche Bereicherung einer Frau, einer Deutschen, an fremdem, jüdischem Schicksal. Und die Täuschung zweier Institutionen. Ich würde denken, dass das Anlass genug ist für einen recherchierten und belegten Bericht.
Welche Verheerungen eine Botschaft anrichten mag, ist oft nicht absehbar. Den Boten zu beschuldigen, so er sie angemessen vorgetragen hat, macht die Lage nie besser. In diesem Fall ist die Lage tragisch, weil es mehr als eine Wahrheit gibt.