Bono und The Edge von U2 im Interview: „Berlin ist längst zum Herzen und Kopf Europas geworden“

„Kann ich mal was Verrücktes tun und ein Bier bestellen?“, fragt Bono (58) entspannt, als er mit U2-Kollege The Edge (57) im oberen Stockwerk des Hotels Waldorf Astoria zum Interview Platz nimmt. Bitte sehr! Der Ausblick von der Suite ist phänomenal. „Ist der Bahnhof Zoo von hier aus zu sehen?“, will der U2-Frontmann wissen. Dann lobt er die Schönheit der Gedächtniskirche. Am 31. August und 1. September gastiert die irische Rockband in der Mercedes-Benz-Arena. Im Interview sprechen Bono und The Edge über die Intensität einer U2-Show, Rockstar-Egos, ihre besseren Hälften, Nahtod-Erfahrungen und U-Bahn-Fahrten.

Meine Herren, im Dezember haben Sie die Hauptstadt mit einem U-Bahn-Konzert aufgemischt. Hand aufs Herz: Wann sind Sie das letzte Mal privat mit der U-Bahn unterwegs gewesen?

BONO: Es gibt eine U-Bahn in der Nähe meines Hauses in Dublin. Die heißt Dart. Ich setze dort meine Kinder mit dem Auto ab, wenn sie zur Schule müssen. Ich selbst bin seit Jahren nicht mehr mit der Dart gefahren. Aber in New York nehme ich immer noch die Subway, wenn ich ins Studio muss.

THE EDGE: Das trifft auch auf mich zu.

Flippen die Leute da auch so aus wie im Dezember in der U2?

BONO: Ach, nein. Ich mache das ja nie im Sommer, sondern immer nur im Winter, wenn ich mir den Schal bis unter die Nase ziehen kann.

THE EDGE: Bei mir ist es noch gar nicht lange her, dass ich privat Zug gefahren bin. Meine Frau hat ein gutes Händchen für Möbel. Sie liebt es, auf Flohmärkten danach zu stöbern. Wir machten einen Spaziergang und passierten einen Müllcontainer, indem sich ein wunderschöner alter Schreibtischstuhl befand. Meine Frau meinte, sie würde gerne zurückkommen, um den zu holen. Und ich schlug vor, ihn gleich mitzunehmen. Wir stiegen in die Dart, um ihn zu transportieren. Ich stellte den Stuhl in die Mitte des Abteils und setzte mich während der Fahrt einfach drauf. Die Leute haben sich köstlich darüber amüsiert – ohne durchzudrehen. So sind die Iren auch nicht.

BONO: Wussten Sie, dass einer der ersten Songs, die Elvis Presley aufnahm, von einem Zug handelte? Das Lied heißt „Mystery Train“ aus dem Jahr 1956. Die Fahrt mit der U2 fühlte sich für mich wie eine Elvis-Matinee an. Man erwartete, dass jeden Moment der ganze Zug zu singen anfängt – so wie im Elvis-Film.

Vorigen Sommer haben Sie im Olympiastadion gespielt, diesmal kommen Sie für zwei Arenen-Shows in die Hauptstadt zurück. Wie geht’s Ihnen dabei?

BONO: Das Konzert im Olympiastadion war besonders, sehr besonders. In Berlin zu spielen, ist uns immer wichtig. Weil wir hier so viel Zeit verbracht haben und „Achtung Baby“ aufnahmen. Da will man es nicht versauen. Dieses Gefühl, dass dir Berlin gibt, davon gibt es nur wenige andere Plätze auf der Welt. Berlin ist längst zum Herzen und Kopf Europas geworden. Die Stadt steht für Offenheit gegenüber der Welt und den Menschen, egal, welcher Hautfarbe, Religion oder Herkunft.

THE EDGE: Und wir könnten nicht stolzer sein, dass man hier extra eine U-Bahnlinie nach uns benannt hat!

Ihr Konzert im Olympiastadion war auch das erste Konzert, wo mir das deutsche Grundgesetz vorgelesen wurde.

THE EDGE: Das sind so Sachen, die wir gerne machen. Unsere Shows korrespondieren damit, wo wir gerade sind oder was gerade in der Welt geschieht. Und das ist der spaßigere Teil an der Planung von U2-Shows. Wir bezahlen sogar extra Leute dafür, die solche Ideen vorantreiben.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mal Berlin?

THE EDGE: Sehr gut sogar. Das muss 1980 gewesen sein. Wir fuhren mit einem Van durch den ostdeutschen Korridor in Richtung Berlin. Unser damaliger Manager Paul McGuinness saß am Steuer. Es war das letzte Mal, dass er uns fuhr. Er hätte uns fast umgebracht!

Wie das?

THE EDGE: Wir schliefen hinten, während er eine falsche Ausfahrt nahm und in eine ostdeutsche Militärbasis fuhr. Plötzlich waren wir umzingelt von bellenden Hunden und einer Truppe bewaffneter Soldaten, die an die Türen des Vans klopften. Wir mussten mit erhobenen Händen das Auto verlassen. Es brauchte 20 Minuten, um denen zu erklären, dass wir eine Band sind und keine Spione oder Republikflüchtige.

BONO: Wir haben über dieses Grenzüberschreitungserlebnis auf unserem zweiten Album den Song „Stranger In A Strange Land“ geschrieben. Es hat bleibenden Eindruck hinterlassen, dass die Typen mit den Waffen in unserem Alter waren. Daher rührt die Zeile: „There is a stranger in a strange land, he looked at me like I was the one who should run.“ Ich glaube, ich muss den Text noch mal Googeln.

THE EDGE: Üblicherweise kann ich mich an Songzeilen immer besser erinnern als Bono.

BONO: Ich hatte den Text nicht mehr vor Augen, seitdem ich das Stück 1981 geschrieben habe. Wir spielen es nie. Aber es ist wie eine Postkarte über die besagte Nacht.

Was ist die schönere Phase einer Band: Die der Unschuld, wenn man gerade anfängt und die Welt erobern will? Oder die als erfahrene Band mit 14 Alben auf dem Buckel?

THE EDGE: Eigentlich ist es die der Unschuld. Aber es gibt da großartige Ausnahmen. Leonard Cohen ist eine – er wurde im Laufe seiner Karriere immer tiefsinniger und interessanter. Darum bemühen wir uns auch.

BONO: Wir bilden uns derzeit ein, dass wir am Ende aller Erfahrungen, ganz hinten am Horizont, mit Weisheit belohnt werden. Wir sind dann vielleicht in der Lage, die Unschuld zurückzugewinnen und so frei und naiv zu sein wie in den Anfängen von U2. Dann ist auch Bono wieder ein anderer.

Wären Sie denn gerne ein anderer?

BONO: Manchmal. Man lernt zu viel über die Welt, wenn man erwachsen wird. Es hat oft viel mehr Stärke, etwas nicht zu wissen. Darum geht’s auch auf den Alben „Songs Of Innocence“ und „Songs Of Experience“. Wenn man sie hintereinander hört, ist das ein Zwiegespräch zwischen dem jungen und dem älteren Ich. Ich bin mir dennoch nicht sicher, was mein jüngeres Ich von mir hält.

Inwiefern?

BONO: Der junge Bono sieht alles Schwarz und Weiß und ist viel schonungsloser – so nach dem Motto: Wir gegen den Rest der Welt. Er wirft mit Steinen nach dem Feind. Aber wenn man älter wird, realisiert man, dass der größte Feind der Mensch im Spiegel ist. Dass größte Hindernis, dich weiterzuentwickeln, bist du selbst und das, was in dir ist.

Ist es schwer, in Würde im Rockzirkus zu altern, wenn man von so viel Zynismus umgeben ist?

THE EDGE: Ich finde, wir machen unsere Sache ganz gut. Klar, da ist viel Häme. Aber wir lassen uns davon nicht beirren – wir wollen immer noch cool sein! Wir fühlen noch dasselbe wie vor 40 Jahren, als wir anfingen. Wir sind eine Straßengang, die nie erwachsen wurde. Und so lange wir das Gefühl aufrechterhalten können ...

BONO: ...können wir auch noch würdevoll erwachsen werden. (lacht)

Mit „The Showman“ beweisen Sie Humor. Sie singen: „I lie for a living“ – ich lüge von Berufswegen. Den könnte Robbie Williams geschrieben haben.

BONO: Ich bin Robbie Williams! (lacht)

THE EDGE: Er hat früher auf Robbie Williams aufgepasst, damit der keine Dummheiten macht.

BONO: Wenn man sich U2-Shows in den Achtzigern und besonders in den Neunzigern ansieht, wie zum Beispiel die „Zoo TV Tour“, dann war da immer viel Humor. Auch in den Liedern: Auf „Achtung Baby“ gibt es den großartigen Hangover-Song „Tryin“ To Throw Your Arms Around The World“. Und wenn man an die Anfänge von U2 denkt, fällt mir das Stück „Trash, Trampoline And The Party Girl“ ein – das ist auch recht lustig. Es ist wichtig, wenn du ernsthafte Sachen machst, auch andere Seiten zu zeigen. Aber nur weil „The Showman“ humorvoll ist, heißt das nicht, dass er weniger bedeutungsvoll ist. Denn ich spreche darin über auftretende Künstler, und wie man sich vor ihnen in Acht nehmen muss. Denn sie können jedes Weinen und jedes Lachen vortäuschen, sogar den Orgasmus.

THE EDGE: Da fällt mir der Spruch ein: Frauen können Orgasmen faken, Männer faken eine ganze Beziehung. (lacht)

Wann ist das Rockstar-Ego eigentlich am Größten: am Anfang oder am Ende einer Tour?

BONO: Ha! Man würde annehmen, dass es sich auflädt und irgendwann explodiert, wenn du jeden Abend vor 70.000 Leuten stehst. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!

THE EDGE: Das Ego implodiert.

BONO: Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass mein Ego am Ende einer U2-Tour kleiner ist als am Anfang. Da ist eine Leere. Und in dem Moment, wenn es sich normal anfühlt, dass dir jede Nacht Zehntausende Leute entgegenkreischen, ist es dann auch nicht mehr gut.

Wann haben Sie das letzte Mal auf der Bühne geweint?

THE EDGE: Machen Sie Witze? Jede Nacht! Es ist lustig, dass manche Leute uns nicht abnehmen, dass wir durch unsere Musik eine große emotionale Katharsis erfahren. Das ist der Grund, warum U2-Shows so überwältigend sind. Wir sind also auf gleiche Weise emotional berührt davon wie das Publikum.

BONO: Um diese Songs singen zu können, die tonal meist zu hoch für mich sind, muss ich sogar in ihnen versinken. Und dann bleib ich schon mal drin stecken. Das ging neulich sogar so weit, dass ich kurz vor der Zugabe einfach nach Hause gehen wollte – so sehr war ich in meinem Film. Irgendetwas war im Publikum passiert, was mich nervte. Ich sagte also: „Los, lass uns abhauen.“ Und Edge hat ja immer seine In-Ears im Ohr, damit er mir nicht zuhören muss. Er nahm sie raus und sagte: „Was? Wir müssen zurück auf die Bühne. Da sind noch einige Songs zu spielen, wir haben zahlende Gäste.“

U2 waren die letzten acht Jahre fast konstant auf Tour. Auf der neuen Platte widmen Sie Ihren besseren Hälften den Song „You're The Best Thing About Me“. Ihre Form der Entschuldigung?

BONO: Ach, die ist ja gar nicht nötig! Wenn ich heute das Haus verlasse, sehe ich manchmal sogar ein Strahlen in den Augen von Ali und den Kindern. Es ist anders als früher: Wenn wir da auf Tour gegangen sind, haben wir unsere Familien oft Monate nicht gesehen, aber mittlerweile begleiten sie uns auch oft. Meine Frau ist eh sehr unabhängig. Ich glaube, ihr gefällt es sogar, wenn sie mal eine Pause von mir hat.

Was können die Fans von der „Experience + Innocence Tour“ erwarten?

BONO: Nun, es wird die Schwester-Veranstaltung der „Innocence + Experience Tour“ sein, die wir im Jahr 2015 gemacht haben. Damals ging es in erster Linie darum, woher wir als Band und Menschen kommen. Diesmal wird es etwas futuristischer sein. Es wird Momente der Unschuld geben, aber die Konzerte beginnen mit der Erfahrung. Das Opening wird deshalb der Knaller. Aber mehr sollten wir nicht verraten, denn dann müsste ich Sie leider töten.