Ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden kann. Ich muss reden“, sagt Tamara, nachdem ihrer Schwester der fünf Monate alte Embryo aus dem Bauch geschnitten wurde und davongetragen, blau, in einer Plastiktüte verpackt. Als erstes fällt ihr die Mutter ein. Sogleich verwirft sie den Gedanken. Von der käme ohnehin nur einer ihrer „Abfertigungssätze“: „Ja, nu lass gut sein.“
Das Schweigen liegt schwer über Franziska Hausers Buch. Durch Sprechen den Schmerz lindern, klären, Geister vertreiben? Nicht üblich, nicht schicklich, nicht für die Frauen in der ersten Hälfte dieses an Geistern und Schmerzen so reichen Jahrhunderts. Nicht gelernt, nie erfahren von ihren Töchtern und Enkelinnen.
Rückblenden und Zukunftssprünge
Mit dem, worüber geschwiegen wurde in der Familie Hirsch, angefangen im späten 19. Jahrhundert bis ins Jahr 2011, in dem „Die Gewitterschwimmerin“ beginnt, um im Folgenden in Rückblenden und Zukunftssprüngen die Leben von vier Generationen nachzuzeichnen, geht die Erzählerin Tamara ins Gericht – und mit sich selbst: „Warum bin ich geworden, wie ich nicht werden wollte?“ heißt es gleich zu Anfang. Damit ist ein weiteres Motiv gesetzt: „Ich wünschte, ich hätte eine Mutter, die...“ beginnen Sätze, und später, als ihr Vater Heldengeschichten aus der Résistance erzählt, wieder einmal, schreit sie ihn an: „Ich hätte gerne stinknormale Eltern gehabt.“
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Doch die Erkenntnis, zu der die 1975 in Pankow geborene Autorin ihre Figuren und mit ihnen den Leser meist chronistenhaft kühl, selten – dann umso eindringlicher – wütend oder traurig führt, ist so naheliegend wie erschütternd: Normal gab es nicht.
Wunden weitergeben
Kein Haus, keine Seele blieb unversehrt in diesem Wahnsinn von Jahrhundert. In der Geschichte der Hirschs, die, wie Hauser unter der Widmung klarstellt, auf Grundlage ihrer Familiengeschichte entstand, hat er tiefe Wunden hinterlassen, und unter der stickigen Decke des Schweigens schwelen sie von Generation zu Generation weiter.
Aus Opfern des NS-Regimes und hehren Widerständlern werden Täter, die – befeuert von einer zügellos freizügigen Sexualmoral der 60er- und 70er-Jahre – Töchter und Nichten missbrauchen. Und aus diesen Opfern werden verhärtete, nicht minder rücksichtslos freiheitsdurstige Frauen, die keine Liebe geben können und doch nichts mehr ersehnen.
Verbotene Tränen
Die Kriege und das, was sie übrig ließen von Deutschland, der „Käfig“ DDR und der mal böse, mal verheißungsvolle Westen, die Systeme und was sie erlaubten und verboten, sind daher viel mehr als Kulisse in diesem Buch. Denn nur, indem man an der Seite der Erzählerin erfährt, wie sie, ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Töchter zu denen wurden, die sie wurden, begreift man, dass hier nicht nur ins Gericht gegangen wird. Sondern um Verstehen gerungen. Weil Verstehen der Anfang von und zugleich Voraussetzung für Vergebung ist. Dass diejenigen, die Gewalt am extremsten erfahren haben, am wenigsten dazu in der Lage sind, deren Kreislauf zu durchbrechen, gehört zu den bittersten Einsichten dieser Lektüre.
Als Tamaras Mutter stirbt, ist Tamara nicht vom Tod überrascht, wohl aber von ihren eigenen Tränen: „Mit dem handfesten Schmerz habe ich nicht gerechnet“, sagt sie, und: „Ich weine über alles, worüber ich mir das Weinen einmal verboten habe.“ Diese verbotenen Tränen kann man getrost als die einer ganzen Generation von Frauen lesen. Denn das Schweigen wohnt überall.
Franziska Hauser: Die Gewitterschwimmerin. Eichborn/Bastei Lübbe, Köln 2018. 431 Seiten, 22 Euro.