Cancel Culture einmal anders: Marx und Lenin zum Anknipsen

Kultureinrichtungen werden umbenannt und Kunstwerke abgehängt. Dass es auch anders geht, beweist man in Neubrandenburg.

Der Künstler Wolfram Schubert.
Der Künstler Wolfram Schubert.BildFunkMV/imago

Gegen die unflätige Praxis des Abreißens, Übermalens und Umbenennens, die unter dem kulturkämpferischen Namen Cancel Culture firmiert, hat man im mecklenburg-vorpommerischen Neubrandenburg jetzt eine elegante Nachwendelösung gefunden. Das im örtlichen Rathaus befindliche großformatige Fresko „Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“ soll wieder freigelegt und restauriert werden. Darauf hatten sich zuletzt die Stadtvertreter nach kontroverser Debatte geeinigt. Das Gemälde aus dem Jahr 1969 markierte lange den Machtanspruch der SED-Bezirkszentrale. Künftigen Besuchern möchte man so viel realsozialistisches Pathos aber nicht dauerhaft zumuten. Vor Schuberts monumentaler Reflexion soll eine Glaswand mit Beleuchtung errichtet werden, sodass die darauf abgebildeten Heroen Lenin und Marx nur bei eingeschaltetem Licht zum Vorschein kommen. Eine Art On- und Off-Sozialismus gewissermaßen.

Kulturpolitik ist Wendepolitik

Allzu viel Spott sollte man nicht über die Neubrandenburger Stadtverordneten ergießen. Sie haben sich zur Bewahrung des kulturellen Erbes vergleichsweise konstruktiv, elegant und kostengünstig aus der Affäre gezogen. Andernorts jedenfalls tut man sich schwerer mit dem Verbergen und Herzeigen dessen, was Vorfahren sich zur Selbsterhöhung ihres Tuns ausgedacht haben. An der Kuppel des Berliner Schlosses, also dem Humboldt-Forum, hat man zunächst eigens von Friedrich Wilhelm IV. zusammengesuchte Bibelzitate angebracht. Nun sollen sie, wie es auf der Seite des Deutschen Bundestags heißt, durch „geeignete Formate und Maßnahmen kontextualisiert“ werden. Von temporärer Überblendung ist ebenfalls die Rede. Das unlängst Restaurierte möge kunstvoll verschwinden. Kulturpolitik ist Wendepolitik, nicht allein erst nach friedlichen Revolutionen und gloriosen Systemwechseln. Der 1926 im südlichen Brandenburg geborene Wolfram Schubert lebt heute in der Altmark, sein künstlerisches Gesamtwerk wurde 2019 vom Landkreis Mecklenburgische Seenplatte übernommen.