Cannes: Aufmarsch der Alleskönner

Die schlechtesten Kritiken bekommt in Cannes bislang das Wetter. Wer jetzt einwendet, bei einem Filmfestival spiele das doch keine Rolle, die Leute säßen ja eh drinnen, der sollte die hier aufmarschierenden Honorationen, Regisseure und Stars in ihren Roben mal bei strömendem Regen über den vor Nässe quietschenden roten Teppich schlittern sehen. Manche Beobachter nehmen einen Film auch nicht unbedingt freundlicher auf, wenn sie ihn, selbst komplett bewässert, begutachten müssen.

In Cannes wartet der Festivalarbeiter draußen schon mal fünfzig Minuten im kalten Guss auf Einlass, wenn etwa die neue französische Kulturministerin Aurélie Filippetti einen ihrer ersten offiziellen Termine wahrnimmt. Sie soll geistig brillant sein, sieht gut aus und rutscht auf dem heiklen Boden nicht mal aus auf ihren himmelhohen Absätzen. Wenn man dann endlich im Kino sitzt, in den neuen Filmen von Abbas Kiarostami, Alain Resnais oder Ken Loach, fühlt man sich aber umso glücklicher.

Ken Loach zählt neben Kiarostami, Michael Haneke und Cristian Mungiu zu den vier Gewinnern der Goldenen Palme, die nun erneut um den renommiertesten Filmpreis der Welt konkurrieren. Loach wird ihn aber nicht noch einmal bekommen für „The Angel’s Share“, denn dieser Film ist einfach zu lustig, wiewohl auch die Balance zum Drama perfekt gewahrt bleibt. In seiner neuen Sozialkomödie erzählt der britische Regisseur gleichermaßen humorvoll wie spannend von Robbie, einem Jungen aus kriminellem Elternhaus, der ambitioniert und intelligent ist, aber ein Problem mit der Affektkontrolle hat.

Robbbie schlägt schnell zu, und was für schreckliche Folgen das haben kann, zeigt uns Ken Loach während der Konfrontation des mageren Jungen mit einem Opfer: Robbie hat einen Unbekannten im Koksrausch überfallen und schwer verletzt, einfach so, die Strafe dafür aber inzwischen abgesessen. Als Robbie dann wegen eines Bagatelldelikts zu 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt wird, steht er am Scheideweg seines Lebens: Nutzt er die Chance, die ihm seine Freundin und der Sozialbetreuer Harry noch geben? Beißt er sich durch, als seine Umwelt ihm nicht erlauben will, ein anderer besserer Mensch zu werden?

Wunderbarerweise akzeptieren Ken Loach und dessen Drehbuchautor Paul Laverty Lebenswege wie die von Robbie und dessen Freunden ohne jedes Moralisieren. Sie wünschen ihren Helden aber ein besseres Leben. Ob die dann den Ausgang dahin finden, liegt auch an ihnen selbst. Dabei lautet die so sympathische wie realistische Botschaft des Regisseurs, dass man mitunter nur mit Hilfe eines kleinen Betrugs anständig werden kann. Ein sehr alter Whiskeyfund, der mit einer Million Pfund die Flasche gehandelt wird, spielt diesbezüglich die entscheidende Rolle in „The Angel’s Share“. Das Kino verlässt man halb besoffen vor Freude darüber, dass sich Ken Loach treu bleibt.

Komplizierter sind die Filme von Abbas Kiarostami gebaut. Alles hat hier eine Bedeutung, jedes Detail, jedes Spiegelbild. „Like Someone In Love“ ist, wie sein Vorgänger „Copie conforme“, ein Spiel mit Identitäten und mit Bildern, die sich Menschen von sich selbst und von anderen Menschen machen, die Zuschauer eingeschlossen. Die neue Regiearbeit des Iraners entstand in Japan mit japanischen Schauspielern. Da hatte man sich vorab schon mal einen flotten Begriff zurechtgelegt, und dann passt er nicht: Fusionskino kann man diese Geschichte einer Tokioter Studentin, die nachts als Callgirl unterwegs ist, nicht nennen, denn es gibt hier ebenso wenig wie in „Copie…“ ein Aroma kultureller Differenzen.

Die Frage nach der wahren Geschichte eines Menschen stellt sich transnational. Der fürsorgliche alte Professor, zu dem Akiko eines Nachts beordert wird, könnte tatsächlich ihr Großvater sein. Aber warum ist Akikos Freund dann am Ende so wütend auf den Alten, dass er Steine in dessen Fenster wirft? Slapstick bei Kiarostami – das wir das noch erleben dürfen! Ungeheuer kunstvoll legt der Regisseur verschiedene Spuren aus - und führt uns damit in die Fallen unserer Wahrnehmung.

Alain Resnais könnte der älteste Gewinner der Goldenen Palme werden. Die 89-jährige französische Regielegende begeisterte Theater- und Resnais-Freunde an der Croisette mit einem sogenannten Metafilm: In „Vous n’avez encore rien vu (You Ain’t Seen Nothin’ Yet!)“ werden dreizehn Schauspieler ins Haus eines angeblich verstorbenen Bühnenautors gebeten, wo sie per Video über eine Neuinszenierung von dessen „Eurydice“ durch eine junge Compagnie befinden sollen. Alle haben sie einst in diesem Stück gespielt und können nun dem Drang nicht widerstehen, in ihre alten Rollen zu schlüpfen, also die Inszenierung zu übernehmen und sich ihrer Geschichte zu stellen. Stars wie Michel Piccoli, Mathieu Amalric, Anne Consigny, Lambert Wilson, Pierre Arditi und Resnais’ Muse Sabine Azéma spielen sich selbst in diesem Film, der also ebenfalls mit Identitäten und deren Interpretation spielt.

Genrekino gab es aber auch zu sehen: Andrew Dominik zeigte mit „Killing Them Softly“ einen teils hypnotischen Thriller, der die US-amerikanische Wirtschaftskrise aus der Perspektive des Killergewerbes betrachtet. Was soll aus einem Land werden, in dem die Hitmen nicht mal mehr Trinkgeld geben können?! Der Wettbewerb von Cannes hat zu sich selbst gefunden, in den vergangenen zwei Tagen. Gutes Wetter brauchte er dazu nicht. Das fehlte nur bei den leidigen Rand-Events.

So konnte das neue Bond-Girl, Bérénice Marlohe, den Trailer zum neuen „007“-Film „Skyfall“ nicht effektvoll am Strand präsentieren. Bernd Neumann (CDU) lässt sich indes sein Dauerbehagen, die deutsche Filmbranche betreffend, nicht trüben. Dass in diesem Jahr wieder kein deutscher Film im Wettbewerb des Festivals laufe, sei nicht entscheidend, so der Kulturstaatsminister und wandte sich flugs dem Schutz des Urheberrechts sowie dem „German Film Music Day“ zu, für den neben Alexander Wolf von der GEMA unter anderen Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten nach Südfrankreich eingeflogen wurden. Auch das sagt viel über die deutsche Kulturpolitik: Sie will keine ästhetischen Diskussionen, die ja Förderentscheidungen berühren könnten, sondern sucht die eigene Bedeutsamkeit lieber, wo sie eben gerade aufscheinen könnte. Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Und schon klart er sich auf, der Himmel über Cannes.