„Chi-Raq“ von Spike Lee: Zählen schwarze Leben etwa nicht?

Als Filmemacher hält Spike Lee nicht viel von Andeutungen, sein Werkzeug ist eher der kräftige Strich. Und so geht er auch in seinem neuen Werk „Chi-Raq“ auf Nummer sicher, dass seine Kernbotschaft mit unmissverständlicher Klarheit zum Ausdruck kommt.

Das Zentrum dieses Spielfilms, der das Bühnenstück „Lysistrata“ von Aristophanes in das von Bandenkriegen zerrissene Chicago unserer Zeit verlegt, bildet eine Predigt des Pfarrers Mike Corridan am offenen Sarg eines im Kreuzfeuer der Gangs erschossenen Mädchens. Die Filmfigur Corridan, die einem echten Pfarrer aus der Chicagoer South Side nachempfunden ist, klagt die Vernachlässigung und die Armut in den schwarzen Ghettos von Amerika an; er wettert gegen die Waffengewalt und die Übermacht der Waffenlobby, die Amerika eisern in ihren Fängen hält. Am Ende schmettert Corridan dann seiner Gemeinde und dem Herrn im Himmel verzweifelt ein Flehen um Gerechtigkeit und Frieden entgegen.

Mord-Hauptstadt

Der Titel des Films „Chi-Raq“ ist gleichzeitig der Name, den die Hip-Hop-Szene schon seit langer Zeit für die Stadt am Lake Michigan verwendet. Er spielt darauf an, dass die berüchtigte South Side die „Mord-Hauptstadt“ der USA ist, wie Spike Lee jüngst in einem Interview sagte. Auf der South Side starben, wie der Film gleich zu Beginn in fetten, roten Lettern über die ganze Leinwand annonciert, zwischen 2001 und 2015 genau 7?356 Menschen durch Waffengewalt. Im Irak kamen hingegen 4424 amerikanische Soldaten um. „Dies ist eine nationale Notlage“, blinkt es rot wie von einer Alarmleuchte durch den Kinosaal.

Der Kinostart von „Chi-Raq“ in den USA hätte kaum besser getimt worden sein. In der Woche der Premiere führten die Massaker von Colorado und San Bernardino dazu, dass das Thema Waffenverbreitung mit einer neuen Dringlichkeit im Land diskutiert wird. Eine Statistik, die zeigt, dass durchschnittlich mehr als ein Mal pro Tag irgendwo in den USA ein Amokläufer wahllos Menschen tötet, machte die Runde. Und Präsident Obama appellierte erneut verzweifelt an den Kongress, endlich wirkungsvolle Gesetze zur Waffenkontrolle zu verabschieden.

Doch die Art von alltäglicher Waffengewalt, die Spike Lee in „Chi-Raq“ als Mischung aus kunstvoller HipHop-Oper und klassischer Komödie inszeniert, ist nicht die Art von Waffengewalt, die in Amerika regelmäßig eine nationale Diskussion anstößt. Ob es Newtown war oder Colombine, die Virginia Tech, Aurora oder San Bernardino – die Schießereien, die Amerika schockieren, sind stets die, bei denen sich das Böse in vornehmend weißen, bürgerlichen Wohngegenden blicken lässt und dort den Alltag aus den Angeln hebt.

Fokus auf der wirklichen Tragödie der Waffengewalt

Dabei ist die Waffengewalt in den schwarzen Wohnbezirken wie der South Side von Chicago rein statistisch gesehen das weitaus größere Problem. So starben im Jahr 2012 in den USA 90 Menschen bei Massenschießereien wie in Aurora oder Newtown. Im selben Jahr wurden in schwarzen städtischen Wohngebieten beinahe 6000 Menschen durch Waffen getötet. Doch die Empörung über diese nationale Schande bleibt aus. „Die Menschen in diesen Gemeinden werden nicht als wichtig wahrgenommen, weil sie keine ökonomische Macht haben und nicht wählen“, sagt der ehemalige Staatsanwalt Timothy Hephy, Experte für urbane Gewalt.

Spike Lees „Chi-Raq“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die wirkliche Tragödie des außermilitärischen Waffengebrauchs in Amerika. Zeitgleich zum Kinostart hat die Zeitschrift The New Republic einen ausführlichen Artikel veröffentlicht, der diese nationale Indifferenz gegenüber dem Massensterben in den schwarzen Ghettos eindrucksvoll dokumentiert. Der Text zeigt, warum der Slogan der neuen Bürgerrechtsbewegung „Black Lives Matter“ – mit der sich Spike Lee ausdrücklich identifiziert – so dringlich ist. Der Artikel spricht zunächst über die wohlbekannte Tatsache, dass sämtliche Versuche der Regierung, nach dem Amoklauf von Newtown 2012 schärfere Überprüfungen von Waffenkäufern und ein Verbot automatischer Schusswaffen einzuführen, am Kongress gescheitert sind. Die Macht der Waffenlobby hat bis heute jegliche effektive Waffenkontrolle verhindert.

Immerhin hatte es die Obama-Regierung geschafft, den sturen Parlamentariern 75 Millionen Dollar für eine bessere Sicherheit in Schulen abzutrotzen. Davon gingen jedoch lediglich 31 Millionen an Distrikte in städtischen Problembezirken, wo das Phänomen der Waffengewalt am stärksten verbreitet ist.

Kein Wille, kein Geld

Dabei gibt es laut Untersuchung der New Republic durchaus wirksame Methoden, um das Morden in den Ghettos zu beenden. So hat ein Pilotprojekt in Boston, wo die Polizei gemeinsam mit Anführern aus den Nachbarschaften direkt mit der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppe – jungen, schwarzen Männern – arbeitet, die Mordrate drastisch reduziert. Es würde etwa 500?Millionen Dollar kosten, das Programm bundesweit zu etablieren – im US-Budget keine extreme Summe. Doch der politische Wille dazu fehlt komplett. Nur vier von 60?Städten, die sich um Geld für ähnliche Programme bewarben, erhielten Zuschüsse.

In Spike Lees „Lysistrata“-Interpretation bringt der Sex-Streik der Frauen die jungen, schwarzen Männer dazu, ihr Gang-Leben aufzugeben und die blutigen Straßenfehden zu begraben. Im wahren Leben ist das nicht so einfach. Interviews für New Republic zufolge wünschen sich viele der Betroffenen eine friedlichere Existenz, doch der Ausstieg aus den Gangs und dem Kreislauf der Rache fällt ihnen schwer. Im öffentlichen Radiosender NPR artikulierte Spike Lee zum Kinostart, was hier dringend nötig wäre: „Sie haben mit 18 Jahren schon das Gefühl, dass es völlig egal ist, ob sie leben oder sterben. Sie sind fest davon überzeugt, dass es ohnehin niemanden kümmert.“ Dieses Gefühl wird freilich dadurch nicht besser, dass niemand darüber spricht, wenn täglich auf den Straßen der South Side gestorben wird. Und dass niemand bereit ist, Geld dafür auszugeben, dass es anders wird.