Christa Wolf: Schonungslos, immer
Es war 1982 in Frankfurt am Main. Der größte Hörsaal der Universität war voll. In den Hörsaal darunter wurde übertragen, was Christa Wolf zu Kassandra zu sagen hatte.In beide Hörsäle ging kaum noch jemand hinein.
Die meisten Zuhörer waren Frauen. So viele Frauen hatten wir in der Universität noch nie zusammen gesehen.
Die Frankfurter Kassandra-Vorlesungen waren auch ein Moment, in dem die Frankfurter Studentinnen erkannten, dass sie keine kleine Minderheit waren. Es war ein Augenblick der Bewusstwerdung. Nicht erst durch das Zuhören und durch das Nachdenken über das, was Christa Wolf vortrug über die Jahrtausende alte Zurückdrängung der Frauen aus dem öffentlichen, aus dem politischen, aus dem geistigen Leben, sondern schon durch das bloße Dabei sein. Niemand, der in einer der vier Vorlesungen war, konnte sich diesem Sog entziehen.Es war ganz klar.
Die Frauen erhoben ihre Stimme, sie waren eine Macht. Sie kannten Gut und Böse, und sie kannten – das unterschied sie von den männlichen Helden – auch sich selbst.
Die neue Frauenbewegung war schon ein paar Jahre alt, aber hier wurde der Riss zwischen den Geschlechtern mit einer Entschiedenheit und mit einer Trauer deutlich gemacht, die nichts zu tun hatte mit den richtigen und verdienstvollen Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit oder den doch auch einigermaßen komischen Debatten zum Für und Wider des vaginalen Orgasmus. Hier stand eine große Autorin, die nicht souverän über ein großes Thema schrieb, sondern sich von ihm hatte ergreifen lassen und nun uns ergriff.
Am 4. November 1989 stand Christa Wolf auf dem Alexanderplatz und verlas eine Erklärung, die von vielen DDR-Intellektuellen unterzeichnet worden war: „Für unser Land“ hieß der Aufruf. Es war der Versuch, an der DDR festzuhalten, nicht, weil man sie schön gefunden hätte, sondern weil man die Chance des Endes dieser Art von Sozialismus nutzen wollte, um es mit einem besseren zu probieren. „Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben“, hieß es gleich zu Beginn. Er endete mit dem Satz: „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“ Die Bürger der DDR folgten diesem Aufruf nicht. Sie wollten sich nicht noch einmal an einer sozialistischen Alternative versuchen. Die meisten von ihnen werden wohl auch eher das Gefühl gehabt haben, dass sie die Versuchskaninchen für anderer Leute Experimente gewesen waren.
Die Frage – wessen Land ist „unser Land“? – wurde sehr schnell beantwortet. Die Mehrheit der DDR-Bürger betrachtete die DDR nicht als ihr Land. Sie wechselte nur zu gerne hinüber in die Bundesrepublik. Damit hatten die Intellektuellen der DDR wohl nicht gerechnet. Es zeigte sich, wie sehr auch die kritischen, ja immer wieder auch observierten und verfolgten Autoren dieser Generation doch Autoren der DDR waren. Sie waren – bei aller Distanz – organische Intellektuelle, ob sie mal für die Stasi arbeiteten oder nicht.
Nach der Wende gründete Christa Wolf einen Arbeitskreis, in dem sich über Jahre – wenn ich mich recht erinnere, einmal im Monat – fünfzig bis zweihundert Menschen trafen, die versuchten, die neue Welt, in die sie hineingeraten waren, zu begreifen. Es wurden Bücher diskutiert. Mal mit, mal ohne ihre Autoren. Es wurden Themen durchgesprochen. Kontrovers und offen. Man konnte hier die wache, neugierige Christa Wolf erleben. Eine sechzigjährige Frau, die die Tatsache, dass alles in ihrem Leben geändert wurde, nicht als Tragödie empfand, sondern als eine intellektuelle Herausforderung, der man sich auch mit Witz und Humor zu stellen hatte. Manchmal konnte man das Gefühl haben, dass es ihr Spaß machte, noch einmal von vorne anfangen zu dürfen.
Wären da nicht die Krankheiten gewesen. Ich weiß nicht, wie sie mit ihnen fertig wurde. Ich weiß nur, dass sie jetzt mit ihr fertig wurden. Ich liebte Christa Wolf. Ich hatte ihre Kassandra geliebt, ihre Bücher über die Romantik, die sie zusammen mit Gerhard Wolf, ihrem Mann, schrieb und herausgab, „Kindheitsmuster“, „Kein Ort. Nirgends“, auch das „Sommerstück“.
Aber „Leibhaftig“ ist für mich ihr großartigstes Buch. Es ist ihr Mut, der mich so für sie einnimmt. Ihr Mut, über das Intimste zu schreiben und ihr, Mut es auf eine Weise zu tun, bei der das Naserümpfen der Literatur-Literatur-Vertreter eine sichere Reaktion ist. Hier war sie schonungslos gegen sich, gegen die Kritik und gegen die Leser. Im Schmerz und in der Freude. Wenn Schmerz und Schmerzmittel sich zusammentun, einem den Verstand zu rauben, dann gebiert die Hoffnung Engel. Das habe ich von ihr gelernt.
Und ich habe gelernt, dass das so ist, ganz gleich, wie schlau, wie dumm, wie gebildet oder ungebildet man ist. Man mag aus ästhetischen Gründen die süße Hoffnung hassen, man hat sie doch. Und man hat sie gerade so süß, wie man sie braucht.
Der geschundene Körper und seine Fantasien – sie wird sich vor ihnen gefürchtet haben wie wir alle. Aber sie hatte die Kraft, den Mut und die Begabung, sich ihnen zu stellen. Das hat uns geholfen. Damit wird sie uns weiter helfen.Wenn wir den Mut haben, uns helfen zu lassen.