Von Billie Eilish bis Diedrich Diedrichsen: Ach, so cool und demokratisch

Der Fotograf Christian Werner verschmilzt in seinem neuen Fotoband „Everything so Democratic and Cool“ scheinbar unverbundene Lebenswelten.

"Billie Eilish".
"Billie Eilish".Foto: Christian Werner

Berlin-„Viele Dinge dieser Welt sind noch nicht benannt worden“, schrieb Susan Sontag in ihrem Essay über Camp, „und viele Dinge sind, selbst wenn sie benannt wurden, nie ausreichend beschrieben“. Das Gefühl, das Christian Werner mit seinen Fotos einfängt, ist zwar nicht Camp, möglicherweise aber eines dieser noch nicht hinreichend beschriebenen Dinge – ein Gefühl ohne Namen, dessen magische Anziehungskraft den Betrachter umso stärker in seinen Bann zieht.

„Everything So Democratic And Cool”, so heißt Werners jüngster Fotoband, erschienen im Eigenverlag der Berliner Galerie Blake & Vargas. Anfang September wird eine Auswahl dieser Bilder dort auch in echt zu sehen sein. Der Titel folgt einer Textzeile des Songs ‚Random Rules‘ der Band Silver Jews: „I know you like to line dance everything so democratic and cool. But baby, there’s no guidance when random rules“. Werner, so die Erzählung dieses außergewöhnlichen Buchtitels, hörte den Song auf dem Highway von Malibu nach Los Angeles. Die fünf Worte blieben haften.

Random, also willkürlich, wie der Songtitel suggeriert, ist Werners Bildauswahl allerdings nicht. Besonders die Portraits stehen oft neben ergänzenden Motiven, zusammen folgen sie einer subtilen Bildlogik. Demokratisch und cool, das gibt dagegen schon einen Vorblick darauf, welches namenlose Gefühl gemeint sein könnte: Einerseits schimmert durch Werners Aufnahmen eine intellektuelle Distanz, besonders in den lichtstarken Portraits. Das erinnert etwa an die Fotografien von Martin Parr oder Bettina Rheims. Andererseits ist Werners Arbeit von einer beispielhafen, motivischen Spannbreite. Ein scheinbar unmöglicher, ästhetischer Sprung wie der von Billie Eilish zu Heinz Bude scheint hier durch ein fast aufsässig pluralistisches, demokratisches Sehen überwunden. Werner integriert aber auch Abstraktes. Fast immer zielt seine Kamera auf den phänomenologischen Kern, auf die Dinge selbst.

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„Warnvogel“
„Warnvogel“Christian Werner

Viele dieser Aufnahmen sind in Los Angeles entstanden, darunter Auftragsarbeiten für die New York Times oder das Modemagazin Numéro. Im Gegensatz zu seinem letztem Bildband, der ausschließlich Los Angeles gewidmet war, finden sich hier auch Bilder aus Berlin, Wien oder Bonn. Oft deuten sie auf ein doppeltes Bewusstsein, wie Kippfiguren, die spontan die Gestalt wechseln und dem Fotografierten etwas hinzufügen, was Coolness ja eigentlich ausschließt: nämlich Intimität. Sie versprühen eine gespenstische Nähe, ein Resultat der Spannung zwischen Hochglanz und Tiefenschärfe und der scheinbaren Alltäglichkeit und Vertrautheit der gezeigten Motive.

Da ist etwa der auf einer makellos sauberen Fensterscheibe aufgeklebte „Warnvogel“, den Werner in Bonn fotografiert hat. Er ist wie ein Inbegriff deutscher Achtsamkeit, Emblem für die Bewahrung eines Ist-Zustands, der heimischen Idylle. Die jagende Sturzflugform des Vogels hat aber auch etwas Herrisch-Kontrollierendes. Es ist wohl kein Zufall, dass Werner gerade dieses Bild auf der gegenüberliegenden Seite mit einem Schnappschuss des Schriftstellers Christian Kracht kontrastiert. Der ist in einem rustikalen Wirtshaus zu sehen, wie er in bedrohlicher Geste einen Revolver in die Kamera schwenkt. Für den Sekundenbruchteil der Aufnahme verkörpert Kracht dieselbe Ambivalenz: die rohe Gewalt, die der Idee der Bewahrung eines heimischen Ideals innewohnt.

Ein anderes Beispiel dafür, wie in Werners Bildsprache Vertrautes fremd und Fremdes vertraut wird, sind Tiere – mal in echt, mal als künstliche Replikationen ihrer selbst. So zeigt er einen überdimensionierten Fensterputzfisch in einem Berliner Aquarium, umgeben von sternhimmelartig umherschwebenden Dreckpartikeln. Das passt gut in die Stadt, in der zwar nicht alles demokratisch und cool, aber vieles noch immer arm und sexy ist. Oder die Gruppe Pelikane, ein Bild im Bild, in Basel: Der Kontrast zwischen dem schrillen Blau ihrer Schnäbel und der spröde wirkenden Stuhlreihe vor dem Bild spiegelt den Gegensatz zwischen der Diversität der Kunst und ihrer spröden Marktförmigkeit, wie sie in einer Messestadt Basel besonders spürbar wird.

„Bundesgiraffen“
„Bundesgiraffen“Christian Werner

Oder die sogenannten Bundesgiraffen, zwei lebensgroße Giraffenmodelle im Lichthof des Bonner Koenig Museums. Aus Mangel an unbeschädigten Gebäuden wurden sie 1948 verhüllt. Um sie herum wurde damals der Festakt des parlamentarischen Rats der entstehenden Bundesrepublik begangen. Die Giraffen sind also nicht bloß schillernde Phantasmen einer entfernten Tierwelt, sondern auch wahrhaftige Zeitzeugen deutscher Geschichte. In Werners Bild scheinen die langhalsigen Körper förmlich mit der klassizistischen Gebäudestruktur zu verwachsen. Tiere, das wird hier deutlich, sind immer ein bisschen mehr, als sie auf den ersten Blick erscheinen.

Auffällig ist auch das Portrait des Soziologen Antonio Negri, der Urvater des Operaismus, dessen „Empire“-Buch als kommunistisches Manifest des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde. Ob die theoretische Wucht dieses freundlich dreinblickenden Theoretikers seinem Feindbild Imperium in der Praxis wirklich etwas anhaben kann? Eine Seite zuvor scheint letzteres in Form einer gigantischen Coca-Cola-Flasche versinnbildlicht. Sie ist in eine Mosaikrundung eingelassen, ganz so, als hätte die archetypische Symbolik des Kapitalismus die Kulturgeschichte vollends ersetzt. Oder, im Gegenteil, als sei die Logik des Konsums nur noch eine verstaubte, museale Fußnote.

Zu derartigen Gedankenspielen laden Werners Bilder immer wieder ein. Etwa auch mit dem Portrait des Kulturwissenschaftlers Diedrich Diederichsen, dessen Beschäftigung mit Popkultur durch ein Bild einer taschenbuchartigen Reiselektüre, der Suhrkamp-Ausgabe von Adornos „Minima Moralia“, gespiegelt wird. Oder das Bild der US-Schriftstellerin Chris Kraus, die gezeigt wird, wie sie in ihrer Küche Saft auspresst. Auf der gegenüberliegenden Seite ist der floral-ästhetisierte Rest einer Grapefruitschale zu sehen. Es wirkt, als wollte der Fotograf sagen, dass es eben nicht nur um den Saft geht, sondern auch um die Schale – oder, wenn man so will, nicht nur um die Demokratie, sondern auch um die Coolness.