Christian Wulff: Blitzableiter an Merkels Herberge
Bleibt eigentlich nur noch zu klären, warum Christian Wulff seit Wochen schon so viel Prügel einstecken muss. Wir versprechen, es kurz zu machen. Schließlich heißt es schon überall, die Menschen hätten genug vom medial befeuerten Bundespräsidialamtsklamauk. Deswegen jetzt in aller Kürze eine Hypothese: Christian Wulff ist als Bundespräsident von Angela Merkels Gnaden nur der Ohrfeigenmann für die mittelprächtige Politikvorstellung der Bundesregierung. Rechte Wange, linke Wange: Als Mensch, Person, Amts- und Würdenträger büßt er für die letzten Jahre Merkel-Regentschaft. Das hat bereits sein Vorgänger Horst Köhler erleben dürfen, einem Joachim Gauck wäre es wohl kaum anders ergangen.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Das ganze Buhei ist so endlos peinlich und unwürdig, weil Wulff bislang nicht in der Lage war zu tun, was ihm von Amtswegen zu tun aufgegeben ist, nämlich erbauliche Reden zu halten; mit jedem Tag, an dem er versucht, aus dem zu Verschleierungszwecken von ihm selbst angelegten Dickicht der Halbwahrheiten wieder herauszukommen, verstrickt er sich nur umso tiefer darin. Es soll also keineswegs Wulff und sein gestörtes Verhältnis zu Amt, Wahrheit und Pressefreiheit entschuldigt, sondern nur gefragt werden: Woher rührt die große Heftigkeit der Kritik? Und warum bekommt die Kanzlerin davon nichts ab?
Die erste Staatsdienerin
Alle gehen unter, nur Merkel nicht. Vermuten wir einfach mal, das hat etwas mit einem allenthalben als „pragmatisch“ und „unideologisch“ gelobten Politikverständnis zu tun. Immerhin erfreut es sich bei fast allen Parteien größerer Beliebtheit und empfiehlt sich seit geraumer Zeit als „Mitte“ den Wählern. Wir dürfen weiterhin vermuten, dass eine solche „unideologische Mitte“ zwar der größte Unsinn seit Erfindung der unbefleckten Empfängnis und deswegen kaum mehr als eine wundersame Mogelei ist. Doch was soll die Meckerei, wenn damit nur ein – Politikerverdrossenheit hin oder her – Durchwursteln gemeint ist?
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Niemand wurstelt so gut wie Angela Merkel. Denn sie beherrscht die Kunst, mit ihrer protestantischen, bis in die mürrisch herabgezogenen Mundwinkel reichenden Pflichtergebenheit keine Angriffsfläche zu bieten: Sie dient, sonst nichts. Das Bild von der unerschütterlichen und unübertrefflichen Staatsdienerin muss als ihre eigentliche politische Lebensleistung gelten. Für jede darüber hinaus gehende Sinnstiftung, für Erbaulichkeiten gar, ist sie nicht zuständig; andere Interessen, als dem Staat zu dienen, sind aus diesem Bild getilgt. Es ist ein unwiderstehliches und, selbstverständlich, ein durch und durch ideologisches Bild: das vom Allgemeinwohl-orientierten Pflichtmenschen.
Vor ihm kapituliert sogar die Kritik, obwohl durchaus erkennbar ist, dass Merkel inmitten ihrer „Gurkentruppe“ – so eine koalitionsinterne Sprachregelung – eher als eine zwar gestrenge, aber bisweilen überforderte Herbergsmutter erscheint. Wie auch immer, das Bundespräsidentendrama spielt genau hier. Denn Wulff erscheint als die einzige Erbaulichkeitsinstanz im Merkel’schen Personaltableau. Jedenfalls hat die Kanzlerin den Schwiegersohn-netten und damit irgendwie werteträgerhaften Politiker für diese Aufgabe auserkoren: Er soll der Blitzableiter von Merkels Herberge sein. An ihn richten sich all die berechtigten Erwartungen, mit denen man die Politik von Regierungswegen möglichst nicht mehr behelligen soll.
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Das muss eigentlich jeden überfordern. Weshalb wir uns das Gedöns um die „Würde“ des Amts und eigentlich auch um das Amt selber sparen könnten. Denn auf Wulff kommt es in dieser Konstellation nicht mehr an, mag er sagen und tun, was er will. Und wo wir gerade dabei sind: Sparen können wir uns gleich noch das Gerede von der Kampagne der Presse gegen die Politik, insbesondere von Bild gegen Wulff. Wer sich auf ein ausgewiesenes Krawallblatt einlässt, ist vor allem eines: selbst schuld. Wenn Wulff etwas vorzuwerfen ist, dann seine – sogar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausdrücklich so genannte – Trotteligkeit, die in der Folge von Hauskrediten und Wutanrufen maßgeblich dazu beitrug, die Bild-Zeitung zu einem Organ der Aufklärung und Wahrhaftigkeit zu promovieren.
Wulff und Bild sind zu einer selbstgenügsamen Einheit verschmolzen, zu einem Nachrichten generierenden Perpetuum Mobile. Schwamm drüber. Die großen und wichtigen Kampagnen laufen eigentlich anderswo – denken wir nur einmal an die Freiheitsrevolutionen in Nordafrika oder an den Demokratieabbau im Herzen Europas, nämlich in Ungarn; von der Occupy-Bewegung bis zur Tea-Party passieren überall aufregende Dinge. Doch haben wir dafür leider keine Zeit. Ohnehin geht es seit Beginn dieser Woche mit der Finanz- und Eurokrise weiter. Und so werden wir uns auch künftig mit uns selbst beschäftigen: Dafür sorgt schon mit medialer Verstärkung die ganz große Angsterzählung.
Beim Geld hört der Spaß auf
Auch das ist so eine Merkel-Marotte. Den fehlenden Überbau ersetzt die erste Staatsdienerin durch schreckliche Superkatastrophen; so dient es sich gleich noch besser. Gerhard Schröder hat es vorgemacht, als er von den „Stürmen der Globalisierung“ redete, derentwegen unsere Sozialsysteme „wetterfest“ gemacht werden müssten, Agenda 2010 und so weiter. Merkels Angsterzählung funktioniert ähnlich: Mit jedem Kapitel des vor unser aller Augen aufgeführten Finanzmarkt- und Eurorettungsdramas – seinen „Krisengipfeln“ und „Rettungsschirmen“ und „letzten Chancen“ – eskaliert die Dringlichkeit. Das nimmt die Menschen zuverlässig an die Kandare, weil sie um ihr Erspartes fürchten.
Beim Geld hört der Spaß bekanntlich auf. Deswegen geht beim Geld die politische Kommunikation für Merkel erst richtig los. Da sie – pragmatisch, unideologisch – die öffentliche Festlegung meidet, lässt sie kurzerhand die Finanzmärkte sprechen. In der großen Koalition mit Peer Steinbrück hat das schon einmal viel Eindruck gemacht. Ihr vorerst letzter Streich galt der Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Kurzum, Geld ist nicht bloß Zahlungsmittel, sondern auch Informationsträger, und der verbreitet seit dem letzten Crash die unfrohe Botschaft, dass wir mit dem Ersparten gleich auch noch unsere freiheitlich-demokratische, kapitalistisch-konsumistische Lebensform verlieren könnten: Schluss mit der Gemütlichkeit.
Das Geld, von dem wir lange dachten, es gehöre uns, flieht Europa, das sich darüber in ein chinesisch finanziertes Demokratiemuseum verwandelt. Kann da wer noch widerstehen? Jedenfalls wirbt keine der Parteien für eine demokratische europäische Idee. Gerade in dieser Hinsicht bedürfte das scheinbar ideologiefreie Politikverständnis eines wenigsten symbolisch Orientierung versprechenden Menschen an der Spitze des Staates. Die offensichtliche Schwäche des Präsidenten wird deshalb so schmerzlich empfunden. Und so formieren sich in der Ödnis der Alternativlosigkeit allenfalls D-Mark-Nationalisten und ein hypernervöses Wutbürgertum.
Als Politiker möchte man da wohl lieber in Deckung gehen und belässt es beim mausgrauen Staatsdienertum. Doch als Christian Wulff erlebt man eine Art persönliches Stuttgart 21.
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