Christoph Schulte: Zimzum – Gott und Weltursprung: Bitte nach Ihnen…

Zimzum ist ein hebräisches Wort. Es bedeutet so viel wie Zusammenziehung. Das ist der zentrale Begriff der Lehre des Isaak Luria (1534 -1572). Er ist der Begründer der lurianischen Kabbala. Geboren in Jerusalem von wohl aus Deutschland oder Polen stammenden jüdischen Flüchtlingen lehrte er in Safed, einer kleinen Stadt in den Bergen Galiläas. Er hatte wohl etwa dreißig Schüler um sich geschart, denen er nicht nur erzählte, was er wusste, was sich ihm offenbart hatte, sondern mit denen er auch ein asketisches Leben führte. Eine Art Guru mit kleiner Gemeinde. Seinen Schülern trug er auf, die Geheimnisse, die er ihnen enthüllte, für sich zu behalten. Sie taten es nicht. Sie schrieben auf, was sie gehört hatten. Jeder nach seiner Weise und so wissen wir von dem jungen Mann und seiner Lehre. „Wissen“ ist zu viel gesagt. Es gibt kein Original. Es gibt nur die doch stark differierenden Texte seiner Adepten. So wie wir von Sokrates fast nur Platon haben. Und was ist nun Zimzum? Was wird zusammengezogen? Lurias Lehre vom Zimzum ist eine der vielen Geschichten von der Entstehung der Welt. Am Anfang, so Luria, war alles erfüllt vom Licht des Unendlichen. Es gab keinen Ort, an dem er nicht war. Die Welt, also das Nicht-Göttliche, entstand, indem er sich zusammenzog und so überhaupt erst einen Raum schuf, ja überhaupt erst das, was wir Raum nennen. Vorher war nur die Unendlichkeit. Gott machte gewissermaßen Platz für die Welt. Ein frivoler Leser hört sein höfliches „Bitte nach Ihnen“, als er dem Neuen, dem bis dahin Unbekannten, dem Unerhörten, dem Gast, den es noch nicht gab, Platz macht und dem Gelegenheit gibt, sich ohne Gott, fern von Gott, zu entfalten.

Christoph Schulte, Professor für Philosophie und Jüdische Studien an der Universität Potsdam, ist der Geschichte dieser Idee nachgegangen von Luria bis hin zu Zimzum-Management-Theorien, die dem leitenden Angestellten nahelegen, es dem Gotte nachzutun, sich also zurückzuziehen und den Untergebenen – freilich unter Aufsicht – die Freiheit zu geben, selbst den besten Weg zu Wachstum und Profit zu finden. Wem das nur komisch vorkommt, der hat das biblische göttliche Wort „Seid fruchtbar und mehret euch“ vergessen. Tradition deckt den Ursprung nicht nur zu. Sie enthüllt ihn auch. Von Anfang an gab es Debatten darüber, ob Luria seinen Jüngern nur eine Geschichte habe erzählen wollen, ein Gleichnis vielleicht, eine große Metapher oder ob er sagen wollte: So war es. Am Anfang ein unendliches, völlig gleichförmiges Universum, dann eine winzige Kontraktion. Ein Schelm wer da an den Urknall und die Explosion von und in Raum und Zeit denkt. Christoph Schulte erzählt, wie Zimzum durch die europäische Geistesgeschichte, durch seine Literatur, seine Kunst und Musik irrlichterte. Wie die Idee von der Kontraktion Gottes Newton, der ein eifriger Leser kabbalistischer Schriften war, gerade nicht ergriff. Schulte schreibt: „Eine der Pointen von Newtons Infinitesimalrechnung ist, dass unendliche Zahlenreihen die Existenz einer Totalität negieren.

Das Unendliche überschreitet die Totalität immer.“ Man könnte sagen: Wenn es hienieden Unendlichkeit – und sei es nur in der Mathematik – gibt, dann hat Gott sich nicht zurückgezogen. Zimzum hat nicht stattgefunden. Aber so sieht man die Sache viel zu simpel, darauf weist Schulte immer wieder hin. Von Anfang an geht es ja immer darum, beides gleichzeitig zu denken: die Anwesenheit Gottes, ohne die es die Welt nicht gäbe und seine Abwesenheit, ohne die es sie nicht geben könnte. Die Geschichte des Zimzum ist ein Versuch, das Oszillieren dieser Konstellation zu beschreiben. Höchst angeregt folgt der Ungläubige diesen Bewegungen. Er fragt sich allerdings auch, ob Zimzum keine Vorgeschichte hat. Ist die Idee von der Entstehung der Welt durch die Kontraktion Gottes wirklich eine Erfindung Lurias?

Christoph Schulte: Zimzum – Gott und Weltursprung, Jüdischer Verlag, Berlin 2014, 501 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 35 Euro