Corona-Kulturpolonaise: Der Rundfunkchor entwirft mit Beethoven eine neue Welt

Gedacht war „The World to Come“ als  ein Wandelkonzert durch das Vollgutlager in der Rollbergstraße und das SchwuZ. Nur darf dank des Abstands-Managements niemand frei wandeln.

Bei den Proben für „The World To Come“ im Vollgutlager.
Bei den Proben für „The World To Come“ im Vollgutlager.imago images/Martin Müller

Berlin-Das Projekt „The World to Come“ des Rundfunkchors Berlin ist so ambitioniert wie lange nichts mehr in seiner Reihe „Broadening the Scope of Choral Music“. In ihr hat das Ensemble mit Konzerten an „ungewöhnlichen Orten“, zeitlich extrem ausgedehnten oder inszenierten Projekten für das Bewusstsein dessen, was Chöre für die Kultur leisten können, Enormes getan. „The World to Come“ sollte eine Auseinandersetzung mit Beethovens „Missa solemnis“ werden, die der Chorleiter Gijs Leenaars zum zentralen Projekt des Beethoven-Jahres erklärte. Birke Bertelsmeier hat die Partitur bearbeitet, Musiker verschiedener Kulturen und Genres performen in anderen Räumen. Was daraus geworden ist, erschließt sich nicht einmal in Ansätzen.

Das Publikum als Menschenschlange

Formal ist „The World to Come“ ein Wandelkonzert durch das Vollgutlager in der Rollbergstraße und das mit ihm im Keller zusammenhängende SchwuZ. Nur darf dank professionellsten Abstands-Managements niemand mehr frei wandeln. Das Wandelkonzert wird zur Kulturpolonaise: Das Publikum schiebt sich als Menschenschlange in abgesperrten Linien durch die Räumlichkeiten und bekommt von zahllosen Helfern den Parcours gewiesen. Wie lange man einen Ausschnitt wahrnehmen kann, hängt vom Tempo des Vordermanns ab, während der Hintermann nachdrängelt. Die Aufmerksamkeit dafür wird vom Hören abgezogen. Wenn man Pech hat, machen die Künstler in einem der Nebenräume gerade ein Päuschen.

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Ich könnte das Projekt eigentlich nur aus dem Programmheft beschreiben, meine eigenen Eindrücke sind zufällig und in der Summe absurd. Das Wandelkonzert, sofern es aus parallelen Aufführungen besteht, von denen der Zuhörer immer nur Bruchstücke erfassen kann, war nie eine gute Idee. Die Erfahrung, dass im normalen Konzert jeder etwas anderes wahrnimmt, weil die Musik für jeden eine andere Bedeutung hat – einer hört Struktur, den anderen erfreut die Sängerin, ein dritter erinnert sich –, wird im Wandelkonzert durch die Provokation individueller Informationsverluste drastisch verzerrt.

Wie ein christliches oder sozialistisches Beglückungsritual

Man kann jedoch daraus eitel ein Weltgleichnis schustern: Wir nehmen die Welt alle in unterschiedlichen Ausschnitten wahr und müssen dennoch miteinander aus- und ins Gespräch kommen, und ist Musik und besonders Chorsingen nicht ein Modell dafür, dass man der „eigenen Stimme“ bewusst ist „bei gleichzeitiger Toleranz für andere Meinungen“? Das war ein Zitat des Regisseurs Tilman Hecker, das ungefähr so stichhaltig ist wie die Vermutung, Regierungsbauten aus Glas garantierten transparente Entscheidungen. Wie man hier in Vollgutlager und an der großen Toleranz-Kundgebung vorbeigeschoben wurde, erinnerte entfernt an christliche oder sozialistische Beglückungsrituale. „The World to Come“? Schönen Dank!