Da müssen Sie am Wochenende hin: die Kulturtipps der Redaktion
Radar Ost im Deutschen Theater, künstliche Intelligenzen in der Artistenhalle und tänzerische Filmkunst im Arsenal.

Radar Ost: Am Deutschen Theater machen sie die Nacht durch
Seit 2018 richtet das Deutsche Theater einmal in der Spielzeit für ein verlängertes Wochenende seine Antennen Richtung Osten aus und präsentiert mit dem Theaterfestival Radar Ost das Bühnenschaffen aus den dortigen, vom Westen weitgehend ignorierten Kulturnationen. Dass in diesem Jahr die Ukraine im Zentrum steht, war schon vor dem Kriegsbeginn vor über einem Jahr geplant. Die Verheerungen, auch die kulturellen, werden nun mit thematisiert und schlagen sich in den gezeigten Arbeiten nieder.

Wichtig sind aber nicht nur das Geschehen auf der Bühne und der ausgelebte Gestaltungswille der Beteiligten, sondern auch der Austausch und das Erlebnis des Zusammenrückens beim Zuschauen und Darüberreden. Das kann sich bei Festivals zu einem gemeinsamen Flow auswachsen. Gelegenheit hierfür bietet eine mit „[Alp]Traum Europa“ betitelte gemeinsame Reise durch die Nacht. Von Freitag 23 Uhr bis Sonnenaufgang (laut Wetterdienst um 6.33 Uhr) wird in der Box musiziert, gelesen, geredet, performt. Zum Frühstück gibt es Kaffee und Spiegeleier, auch Knabberzeug, Getränke, Zahnbürsten und Decken sind erhältlich. Eine Friedensutopie in der Box in einer Welt des Kriegs. Ulrich Seidler
Radar Ost 2023. Noch bis 12. März. Programm und Informationen unter Tel.: 28441225 oderwww.deutschestheater.de
„Decoding Bias“: Acht künstliche Intelligenzen in der Gruppentherapie

Jetzt spielt die KI auch schon Theater. Aber die besseren Menschen sind diese künstlichen Intelligenzen noch nicht. Die scheinbar neutrale Software führt keineswegs zu mehr Gerechtigkeit, etwa bei der Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern für ein Job-Interview. Im Rahmen der Inszenierung „Decoding Bias“ versuchen acht von ihnen in einer Gruppentherapie sich ihrer diskriminierenden Algorithmen zu entledigen. Die KIs sind als Avatare auf acht großen Monitoren im Stuhlkreis positioniert. Die Zuschauerinnen, so verspricht die Ankündigung, werden Teil dieses therapeutischen Stuhlkreises und erleben mit, wie die KIs versuchen, sich von ihren diskriminierenden Algorithmen zu befreien und wie sie über ihre Visionen diskutieren. Dazu erklingt Chers „Strong Enough“. Susanne Lenz
Decoding Bias 10.-12. März, Artistenhalle, Holzmarkt 25. Es gibt vier Time Slots: 17.30, 18.45, 20 und 21.15 Uhr, Tickets unter decodingbias.art
Yvonne Rainers tänzerische Filmkunst im Arsenal
In der Klarheit, mit der Yvonne Rainer in ihren Filmen politische und feministische Ideen verdichtete, war sie ihrer Zeit mehrere Schritte voraus. In „Murder and Murder“ (1996) etwa, ein Film über lesbische Liebe und lesbischen Sex, über das Altern und über Brustkrebs, analysiert Rainer (im Film) die Gefühlslagen ihrer Figuren und zeigt – was heute wie ein Vorausblick auf empowernde Selbstpräsentation vieler Transmänner wirkt – ihre Mastektomie-Narben.
Typischerweise überschneidet sie dabei mehrere Handlungsstränge und erzählt diese dann in einer einer idiosynkratischen Mischung aus Traumbildern, Dokumentar- und Archivmaterial. Einzelne Figuren werden dabei nicht selten auf mehrere Darsteller verteilt. Der Psychoanalytiker im Film „Journeys from Berlin/1971“ (1980), der am Sonnabend im Kino Arsenal zu sehen sein wird, wird etwa von einem Mann, einer Frau und einem kleinen Jungen gespielt – letzterer bellt andauernd wie ein Hündchen. Manche Szenen wirken wie ein polemischer Wortschwall, andere sind surreal verfremdet. Aufnahmen einer Aufführung der Werke des Schriftstellers und Black-Panther-Party-Mitbegründers Eldridge Cleaver mischen sich mit bunt fließenden Bildern von Menschen in stilisierten Körperposen. Rainers tänzerischer Stil – die heute 88-jährige war nicht nur Filmemacherin, sondern auch Tänzerin und Choreografin – ist oft ästhetisch anzusehen, aber immer auch mehr als das. Ihr Werk: eine große Empfehlung. Hanno Hauenstein
Filmreihe Yvonne Rainer, Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2. Das genaue Programm (noch bis Ende März) unter: www.arsenal-berlin.de
Constellations: Ein Festival für queere Berliner Orte, die es nicht mehr gibt
Unser Berlin verändert sich. Schneller als viele andere Städte. Auch das Berlin, in dem wir heute tanzen, wird bald Stoff für Museen sein. Und für die Geschichten, die wir uns erzählen werden. So wie auf dem Constellations Festival dieses Wochenende. Das zauberschöne Ziel der Festival-Macher:innen: queere Berliner Orte wiederauferleben lassen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Inwieweit es sie dadurch dann eben doch wieder gibt oder vielleicht auch niemals nicht gab – darüber dürfen sich die Philosoph:innen den Kopf zerbrechen.

Wir können derweil viel erfahren: Etwa über die DDR-„Kiezmutter“ Christiane Seefeld aus dem Helmholtzkiez: in ihrer Wohnung blühte das queere Leben in der DDR auf – woraus dann auch der kultige Sonntagsclub entstand. Das Kreuzberger SO36 wiederum lässt für das Festival seine 90er-Party „Black Cowboy wearing Dresses“ wiederauferstehen, eine der ersten Adressen damals für Queers of Color in Berlin. Dann also ab in die Zeitmaschine und queer durch Berlin! Stefan Hochgesand
Constellations diverse Orte, 10-12. März, Programmdetails auf constellations-archive.net
Chamäleon: Neuer Zirkus mit „in_between“
Beim Blick aufs Bühnenbild wird sofort klar, dass die finnische Zirkuskompanie Circo Aereo ihr neues Programm für das Chamäleon während der Pandemie entwickelt hat. Denn hier wird zum Beispiel auf Sofas und Sesseln geturnt! Stehlampen markieren Wege, so wie anderswo bunte Kegel. Vorhänge, die man vor Altbaufenstern vermuten würde, werden zum Klettergerät umfunktioniert. Nicht nachmachen, werden Eltern ihren Kindern ängstlich zuflüstern, denn wenn sich mehrere Leute per Salto vom Mobiliar in die Lüfte schwingen und dann wieder auf dem Boden landen, könnte es eine Mietshaus-unverträgliche Erschütterung bewirken. Und so ein Sprung von Sofa zu Sessel über die Mitspieler hinweg ... Ach was, die Truppe hat das alles trainiert, Erschütterungen sind nicht zu hören und der Kronleuchter, an dem mehrere Artisten rhythmisch schwingen, bleibt hängen und sorgt für Glamour. Die Programmankündigung des Chamäleon warnt empfindliche Naturen nur vor einem Schreckmoment: einem Peitschenknall.
Die Bühne des Theaters in den Hackeschen Höfen ist nicht sehr hoch und nicht sehr weiträumig. Circo Aereo nutzt den Platz aus und weitet ihn mit einer Show aus Artistik und Körpertheater. „Wenn mich jemand nach dem Stil meiner Arbeit fragt, antworte ich immer, dass er sich irgendwo zwischen zeitgenössisch und traditionell befindet; zwischen unterhaltsam und seltsam“, sagt der Chef der Kompanie Maksim Komaro. Und so heißt das Programm „in_between“. Cornelia Geißler
Chamäleon Freitag 20 Uhr, Sonnabend und Sonntag 18 Uhr, Sonnabend auch 21.30 Uhr. Weitere Vorstellungen bis 30.7.2023
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