„Damage and Joy“ von The Jesus and Mary Chain: Nach zwanzig Jahren wieder eine neue Platte

Von Markus Schneider
Fies oder nett, das ist im Leben die Frage. Das Facettieren kommt danach. In der Kunst kann man das nicht so einfach sagen. Nehmen wir The Jesus and Mary Chain: Die Brüder Jim und William Reid haben die Fiesheit zum zentralen Einfluss ihrer Kunst erklärt, die Musik lebt von der Verehrung für Velvet Underground und Phil Spector, der ungefähr einzige Mensch, der als ein bisschen fieser als Lou Reed gilt. Und wie Spector mit Ronnie, und Reed mit John Cale, so umgab auch Jim und William Reed seit Anfang der 80er-Jahre das Image lauernder Bosheit und Gewalt. 1998 hatten sie die Band nach dem Album „Munki“ kaputtgegiftet. William zog nach L.A., Jim blieb erstmal in London.

Prügeleien im Studio und auf der Bühne

Bemerkenswert an ihrem neuen, siebten Album „Damage and Joy“ ist also nicht nur die Pause von bald 20 Jahren – wobei sich die Schotten schon seit 2007 ein bisschen wiedervereint haben, für Festivals und die Jubiläen ihres legendären Debüts „Psychocandy“ von 1985. Kaum weniger geschichtsnotorisch als ihre Musik sind auch die Prügeleien, im Studio, auf der Bühne, und auch das Publikum hatte nichts zu lachen. Zumal frühe Auftritte endeten gern nach 15 Minuten überragend schlechter Vibes im Chaos. Ihr größter Fan, Manager und Creation-Label-Chef Alan McGee nannte sie damals „die deprimierendsten Typen, die man sich vorstellen kann“.  Sie haben ihn dann entlassen.
Jim Reid ist ein schmaler Mann Mitte 50 mit grauem, kurzem Wuschel auf dem Kopf. Er sitzt in einem Hotelzimmer mit Blick auf den Breitscheidplatz und seufzt. „Ich wollte nie mehr eine derart miese Stimmung erleben wie mit „Munki“, wir konnten keine fünf Minuten im selben Raum sein, ohne uns anzufallen“, erinnert er sich ungern. Weil aber die Auftritte einigermaßen liefen, sagt er, und William gleich ein Album ankündigte, hätten sie eben irgendwann liefern müssen.

Zur Sicherheit nahmen sich die beiden jedoch zum ersten Mal in der Bandgeschichte einen Produzenten. Martin Glover alias Youth, Killing-Joke-Bassist und Großproduzent zwischen Goa-Trance, The Verve und Pink Floyd, nahm die beiden mit in sein spanisches Homestudio in der Wüste: „Wir waren schrecklich nervös“, lächelt Reid. „Er sollte ja gleichermaßen Eheberater, Schiedsrichter und Psychotherapeut sein – ein harter Job also.“
Sie haben ihn alle gut erledigt. „Damage and Joy“ wird zweifellos kein Klassiker. „Psychocandy“ gehört mit seiner sagenhaft verwegenen Mischung aus honigsüßem Pop und fiesem, ultralautem Feedbacklärm zu einer der emblematischen Achtzigererfahrungen. 

Man erkennt hier die typische Haltung, und auch die jenseits echten Lärms anheimelnde Mischung aus brummenden Rockriffs, gefährlichen Grooves und trügerischen Melodien. Neben ihrem ursprünglichen Wunsch, zu klingen, als würde man „Shangri-Las-Songs mit den Einstürzenden Neubauten als Backing Band spielen“, hört und erfährt man hier auch von der frühen Glamrock-Leidenschaft. „T.Rex, Sweet, Bowie waren unsere ersten echten Kicks“, sagt Reid. „Aber entscheidender wurde Punk: In einer Band spielten damals nur Außerirdische, aber nicht zwei Arbeiterkids aus East Kilbride. Und dann hast du diese Musik gehört und gedacht: Ja! Mann! Wobei...“, lacht er, „so ein Ramones-Song, das ist keine wirklich einfache Übung.“

Nicht verlernt haben sie auf „Damage and Joy“ – inspiriert übrigens von der nicht übersetzbaren deutschen Schadenfreude − auch die Abgründigkeit und Hinterhältigkeit der Texte: „I hate my brother and my brother hates me/ that’s the way it’s supposed to be,“ singen sie lustig postfaktisch in „Facing Up to the Facts“; in „Amputation“  erzählt Reid vom Frust als Solist. Wie eine runde Hälfte der Songs stammt auch dieser schon aus der frühen Zeit der Trennung: „Im Radio lief nur öder, beknackter Indiescheiß, oder Dancescheiß, oder einfach nur Scheiß“, meint er. „Aber ich bekam keinen Fuß in die Tür: Rock ’n’ Roll war ein exklusiver Club, und uns hatte man rausgeschmissen.“

Drogen, Sex, Sonnenbrillen

Dafür findet man nun hier auch viel klassische Rockmotive, Drogen, Sex, Sonnenbrillen: „Fucked-up girls love drugged-up boys“ – was man als ironische Rückblende lesen sollte: „Wir gelten ja als richtig fiese Typen. Aber ich bin echt die schüchternste Person der Welt“, erklärt Reid und wirkt recht zerbrechlich. „Mitten auf einer Bühne zu stehen, das macht mir irre Angst“ sagt er und lächelt schief. „Ich bin Trinker, seit zwei Monaten trocken. Damals wusste ich nicht, wie ich nüchtern in der Band funktionieren sollte.“ Da fragt man sich schon, ob es wohl gesund ist, so in den Erinnerungen zu schwelgen mit diesem Album.

Im melancholischen, krautig tuckernden „All Things Pass“ heißt es: „Alles hat einmal ein Ende – aber bitte nicht zu schnell.“ − Jim Reid schaut aus dem Fenster, auf Gedächtniskirche, Autos, wuselndes Berlin und erzählt: „Als meine erste Tochter zur Welt kam, bin ich aus London weg ans Meer gezogen. Es hat sich angefühlt wie: Das war’s. Mein Leben ist vorbei. Und dann kam die zweite Tochter.“ Pause. „Ich denke, es war wohl die glücklichste Zeit meines Lebens. Nur ich, die Kids, das Meer.“