Darf man im Konzert stehen und tanzen, wenn es nur Sitzplatzkarten gibt?
Endlich wieder Musikveranstaltungen. Die Rhythmen verlangen Bewegung, doch der Hintermann will freie Sicht auf die Bühne. Was tun?

Wieder steht ein Konzert an. Ein echtes, drinnen, mit Tickets. So viele Menschen. Der Innenhof leuchtet, dieses Funkeln der Erwartung. Lange ist es her. Ich will jeden Vorgang speichern: Ticket scannen, Tasche abgeben, am Wein nippen. Plastikbecher, Konzert eben.
Aber nix ist „eben“. Alles ist besonders, weil wieder. Die Vorband gibt alles. Dann kommt Zaz und schon beim dritten Lied verbietet sich das Sitzen. Wir springen auf. Hinter uns ertönt eine Stimme: „So geht das aber nicht. Ich habe hierfür bezahlt.“ Boing. Ohrfeige.
Meine Freundin versucht zu vermitteln. Es funktioniert nicht. Sitzplätze bedeuten Sitzen. Wir wippen ein Lied lang, dann rauscht uns wieder ein Song in die Beine. Also weg hier, auf den Gang, und tanzen, tanzen.
Dort bleiben wir, schauen hinunter, wo alles tanzt. Schauen auf die Ränge respektive Balkone, wo auch – fast – alle tanzen. Es gibt ein gallisches Dort, das sitzt. Um den Mann, der bezahlt hat. Wie er sich wohl fühlt jetzt? Und die Frau, die neben ihm sitzt? In solchen kleinen Schlachten ist es wie in den Großen. Es gibt keine Gewinner, nur Sieger. Wir wollten nicht siegen, sondern tanzen. Er will sitzen.
Ich widerstehe dem Wunsch, mich immer wieder umzudrehen. Und denke doch, zwischen Hüpfen und Klatschen und Singen, an unseren Ex-Hintermann. Vielleicht kann er nicht stehen? Aber warum dann kein Platz am Rand? Ein doch gewagter Blick zeigt mir, dass er die Arme verschränkt hält vor der Brust. Ein Denkmal des Trotzes. Mein Tanzen bekommt auch etwas Trotziges, aber ich will das gar nicht. Nicht heute, nicht hier.
Eine Altersfrage kann es nicht sein
Eine Altersfrage kann es nicht sein, der Innenraum trägt zu 50 Prozent graues Haupthaar. Kaum jemand, der sich nicht anstecken lässt vom Gewirbel der Sängerin, die das Wort „Energie“ neu definiert. Also tanzen, tanzen, tanzen.
Als der ganz große Hit kommt, „Je Veux“, sitzt niemand mehr. Auch nicht der Mann, der bezahlt hat. Er würde sonst nichts sehen und steht, mit verschränkten Armen. Als ich das sehe, denke ich: Vielleicht hätten wir uns einigen können. Sitzlieder und Tanzlieder. Im Wechsel. Moll und Dur, denn beides kann Zaz, kann die Stadt. Und damit niemand verliert.
Der letzte Song ist einer zum Sichwiegen. Ich drehe mich nicht mehr um. Der Rausch, die Musik trägt uns die Treppen hinunter. Umarmung im Nieselregen. Und in der Tram, den Plastikbecher in der Tasche, denke ich doch noch einmal: Vielleicht hätten wir das regeln können. Aber vor allem haben am Ende fast alle getanzt.