Das Festival in Cannes enttäuscht mit Asghar Farhadis Eröffnungsfilm „Leto“
Everybody Knows“ (Jeder weiß es) hat Asghar Farhadi seinen Eröffnungsfilm des 71. Cannes-Festivals genannt, die erste spanische Produktion des Iraners. Der Titel erwies sich als schlechtes Omen für ein Melodram, dessen vermeintlich überraschende Wendungen jeder Zuschauer im Durchschnitt eine halbe Stunde vor den Protagonisten wissen konnte. Penélope Cruz und Ricardo Darin spielen ein Ehepaar, das sich im Augenblick der Entführung seiner Teenager-Tochter seiner Vorgeschichte stellen muss. Da es die Entführer offenbar auf das Vermögen des von Javier Bardem gespielten Ex-Freundes der Mutter abgesehen haben, dürfen wir dreimal raten, wer wohl der leibliche Vater ist.
Dass Farhadi diesen Themenkomplex weit dramatischer findet als das, was das entführte Mädchen durchmacht, ja, dass er es zwischendurch förmlich zu vergessen scheint, führt sein bislang so erfolgreiches erzählerisches Markenzeichen ad absurdum. Bei seinen Oscar-gekrönten „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „The Salesman“ versteckte er kunstvoll ganze Handlungsebenen hinter falschen Fährten und überwand dadurch leichthändig Genregrenzen, erweiterte Beziehungs- zu Gesellschaftsdramen.
Nicht nur fällt diesmal dieses Kartenhaus lange vor Ende des Films in sich zusammen, auch das Potemkin’sche Dorf, dass Farhahdi zur Tarnung errichtet, ist von erschreckender Banalität: Eine touristische Dorfidylle, überdrehte Spanier, ein aus Gips und Plexiglas errichteter Kirchturm als Kulisse für ein Liebesnest – dafür hätte Farhadi auch im Teheraner Studio bleiben können. Kein Wunder, dass das Festival sein Starvehikel nicht vorab der Presse hatte zeigen wollen.
Nicht die beste Basis für eine Satire
Auch ein weiterer Cannes-Stammgast, der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa, vertraut in „Donbass“ auf oft von ihm erprobte, aber keineswegs unfehlbare Methoden. Lose verbundene, tableaux-hafte Sequenzen führen in leere Winterlandschaften, wo uniformierte Eindringlinge überraschend wenig Eindruck auf eine Landbevölkerung machen, die genug mit der täglichen Korruption zu tun hat. Der Ton ist satirisch, aber nicht humorvoll, leicht irreal, aber nie poetisch, manchmal grausam, aber nie erschreckend. Wie leicht wäre es gewesen bei allem Aufwand dieser Koproduktion mit Deutschland, das Thema da anzupacken, wo es wehtut.
Auf beiden Seiten gibt es genug tabuisierte Verbrechen, um hier in die Tiefe zu gehen; seine Neutralität hätte Lotznitsa dafür nicht einmal aufgeben müssen. Stattdessen entsteht der Eindruck der Konfliktvermeidung, nicht die beste Basis für eine Satire. Auch der Zweitwettbewerb „Un certain regard“, in dem Loznitsa konkurriert, eröffnete damit unter den Erwartungen.
Während das Putin-Regime also von Loznitsa nichts zu befürchten hat, feiert Cannes zugleich den unter Hausarrest gestellten Film- und Theaterregisseur Kirill Serebrennikov mit einer Wettbewerbspremiere in Abwesenheit. Wegen offensichtlich fadenscheiniger Korruptionsvorwürfe festgesetzt, konnte Serebrennikov „Leto“, sein Biopic der russischen Musikerlegende Viktor Tsoi, nur von zu Hause aus beenden. Gut getan hat das dem Film natürlich nicht, der nun sympathisch, aber nicht wirklich rundum gelungen wirkt.
Die Qualitäten liegen in der Erzählung
In minuziös rekonstruierten Sets führt der überwiegend in Schwarz-Weiß gehaltene Film in die Leningrader Jugendkultur der frühen 80er- Jahre. Zentraler Spielort ist der „Leningrad Rock Club“, dessen uriges Backstage-Biotop förmlich danach ruft, die russische New Wave zu erfinden und den Sowjet-Punk gleich mit. Der Stilpluralismus der Kultband „Kino“, die das Talent des jungen Singer-Songwriters Viktor Tsoi (Teo Yoo) zur Entfaltung bringt, wird gründlich analysiert. Lange Diskussionen der Musiker über ihre westlichen Vorbilder wie Lou Reed, David Bowie oder Marc Bolan belegen die kosmopolitische Ausrichtung dieser heute als Soundtrack der Perestroika gehandelten Musikkultur.
Viele Songs werden in Videoclipartigen Sequenzen inszeniert, deren gefälliger Stil allerdings zu adrett wirkt für die Stücke. Und auch die klingen in den Neuaufnahmen mit den Schauspielern ein Stück sauberer und glatter als im Original. Auch die immer wieder über die Fotografie gezeichneten Animationen sind von kontraproduktiver Nettigkeit.
Aber wer will einem Regisseur, der unter Hausarrest gestellt ist, schon Fehler in der Postproduktion zum Vorwurf machen? Die Qualitäten liegen in der Erzählung: Serebrennikov vermeidet konsequent die klassische Dramaturgie einer erfolgsorientierten Musikerbiografie, und allein das ist selten: Die historische Ferne von kapitalistischen Werten erweist sich hier auch dramaturgisch als Segen. Ebenso vermeidet er die Heroisierung der Hauptfigur à la Jim Morrison, indem er ein Ensemble ähnlich charismatischer Figuren aufbietet. Selbst den tragischen Tod Viktor Tsois bei einem Autounfall mit 28 Jahren nimmt der Filmemacher nicht zum Anlass zur pathetischen Verdunkelung ins Melodrama.
Es wäre der bessere Eröffnungsfilm gewesen; man hätte Penélope Cruz und Javier Bardem ja trotzdem schon mal auf den Roten Teppich einladen können.