Das wirre Geschichtsbild des IS: Erst die Abtrünnigen, dann die Ungläubigen

Mosul - Als der unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi bekannte Mann auf die Kanzel der Großen Moschee von Mosul steigt, um die Freitagspredigt zu halten, sind zahlreiche Kameras auf ihn gerichtet. Die erste öffentliche Predigt des soeben vom selbsterklärten „Islamischen Staat“ (IS) ausgerufenen Kalifen ist ein tief symbolischer Akt, der an diesem 4. Juli 2014 um die Welt gehen soll.

Mit seiner Predigt versuchte Baghdadi, sich in die Tradition mittelalterlicher muslimischer Herrscher zu stellen, denen die Freitagspredigt als fundamentale Bestätigung ihres Machtanspruchs diente. Insbesondere die schwarze Kleidung Baghdadis sei – so einige Beobachter – eine Reminiszenz an die Dynastie der schwarztragenden Abbasiden, die im 8. Jahrhundert – nach dem Sieg ihrer unter schwarzen Bannern im östlichen Iran aufgebrochenen Truppen – die Kalifatswürde erlangten und bis ins 13. Jahrhundert von Bagdad aus weite Teile des Irak beherrschten.

Während die Wahl der Farbe also auf die Abbasidendynastie verweisen könnte, die sich wie al-Baghdadi selbst als Teil der „Familie des Propheten“ verstand und auf diese Weise ihre Herrschaft legitimierte, dürfte die Wahl des Ortes für den öffentlichen Auftritt Baghdadis eher auf die Zengidendynastie und ihren berühmtesten Vertreter – Nur ad-Din Zengi – hindeuten.

In Saladins Schatten

Die Freitagsmoschee von Mosul wurde 1171 vom Zengiden Nur ad-Din in Auftrag gegeben, weshalb sie auch als Nuri-Moschee bekannt ist. Mosul war ab 1127 Stammsitz der Dynastie der Zengiden und verblieb etwa 150 Jahre unter ihrer Herrschaft. Unter Nur ad-Din erreichte die Dynastie ihre größte Ausbreitung, ihr Herrschaftsgebiet erstreckte sich schließlich über Teile des Nordirak, Syriens und Ägyptens.

Nur ad-Din wird als einer der Hauptgegenspieler der Kreuzfahrer angesehen. Er steht jedoch im Schatten Saladins, der nach dem Tod Nur ad-Dins zum mächtigsten muslimischen Herrscher der Levante aufstieg. Saladins Ruhm speist sich hauptsächlich aus seinen Siegen über die Kreuzfahrer, die 1187 zur Einnahme Jerusalems führten. Während der Verweis auf muslimische Helden der Kreuzzugszeit zum Standardrepertoire dschihadistischer Gruppen gehört, stellt gerade Nur ad-Din für den IS – insbesondere für den IS-Vordenker Abu Musab az-Zarqawi – eine wichtige Referenzfigur dar.

Wie stark ein Geschichtsbild, respektive die Nachahmung eines historischen Vorbilds, die Handlungen der Vorgängerorganisationen des IS beeinflusste, erwähnt Sohail Hashmi in seinem Aufsatz „Enemies Near and Far“ (Feinde nah und fern), in dem er auf die letzte Rede Zarqawis Bezug nimmt: Saladin habe Jerusalem zurückerobern können, da er und sein Vorgänger Nur ad-Din zunächst die schiitischen Herrscher der Region in ihre Schranken gewiesen, ja teils beseitigt habe. Ein Sieg über die „Ungläubigen“ sei also – so lehre die Geschichte – nur möglich, wenn zuerst die „Abtrünnigen“ besiegt würden.

Die anti-schiitische Grundhaltung des IS und seiner Vorläufer ist also nicht nur im konfessionellen Gegensatz begründet, sondern wird auch von diesem Geschichtsbild getragen. Dass die Ansichten Zarqawis für den IS – auch Jahre nach seinem Tod im Jahr 2006 – bis heute wegweisend sind, lässt sich an seiner stetigen Präsenz in der Propaganda des IS sowie in der zielgerichteten Umsetzung seiner Strategie erkennen.

Interessant ist dabei das vom IS anscheinend Punkt für Punkt abzuarbeitende Strategiepapier, das der jordanische Journalist Fouad Hussein in seinem leider nur auf Arabisch vorliegendem Buch „Zarqawi – Al Kaidas zweite Generation“ vorstellte. Das unter dem Namen „Al Kaidas 20-Jahresplan“ bekannt gewordene Konzept war Hussein aus dem Umkreis Zarqawis zugespielt worden.

Für die Jahre 2007 bis 2010 sieht der Plan die Errichtung einer starken Machtbasis im Irak vor – Ende 2006 schlossen sich, Zarqawis Plan folgend, mehrere sunnitische Gruppen zum IS-Vorläufer „Islamischer Staat Irak“ zusammen. Dies sollte eine Ausbreitung auf Syrien im Zuge einer zunehmenden Konfessionalisierung zur Folge haben, wie sie im Zuge des Bürgerkriegs in Syrien ab 2011 tatsächlich Gestalt annahm. Die für diesen Zeitraum geplante Destabilisierung der Region durch Attentate in der Türkei, Jordanien und Israel blieb dagegen bisher aus.

Bis 2013 sagt das Papier eine zunehmende Destabilisierung der arabischen Staaten voraus, was zur Ausrufung eines Kalifats zwischen 2013 und 2016 zu nutzen sei. Dies münde in einen geradezu apokalyptischen Konflikt mit dem Westen und Israel, der einen Rückzug des Westens aus der Region, seine massive Schwächung und wohl die Vernichtung des Staates Israel zur Folge haben werde.

Ahistorisches Geschichtsbild

Implizit handelt es sich bei diesem Plan um die Übersetzung von Zarqawis Geschichtsmodell in Handlungsanweisungen: Zunächst seien Schiiten zu bekämpfen, um dann Jerusalem einnehmen zu können. Dieses Prinzip wurde vom IS und seinen Vorläufern häufig mit dem Zarqawi-Zitat untermauert: „Wir kämpfen im Irak, aber unsere Augen sind auf das Heilige Land (Jerusalem) gerichtet“.

Es erübrigt sich beinahe zu erwähnen, dass die Geschichtsinterpretation Zarqawis größtenteils ahistorisch ist. Nur ad-Din war zwar ein Förderer der Sunniten, und er unterdrückte Schiiten in seinem Herrschaftsbereich. Dies hinderte ihn aber nicht daran, sich auch mit schiitischen Herrschern gegen sunnitische zu verbünden. Zu einigen Kreuzfahrerstaaten wie auch zum Byzantinischen Reich unterhielt er gute Beziehungen. Dem Geschichtsbild von Nur ad-Din als großem Vorkämpfer gegen die Kreuzfahrer liegt wahrscheinlich eine gezielte, teils retrospektive zengidische Propaganda zu Grunde, die Nur ad-Dins Wirken als Vorbereitung zur Eroberung Jerusalems darstellte. Genau dieses ahistorische, Jerusalem-zentrierte Geschichtsverständnis dürfte bei der Wahl der Nuri-Moschee als Ort des ersten und bisher einzigen öffentlichen Auftritts des „IS-Kalifen“ eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.