Abgesagter HU-Vortrag über Gender: Marie-Luise Vollbrecht will keine Fragen

Die Uni hat Sicherheitspersonal angeheuert, die Biologin Marie-Luise Vollbrecht zeigt Seeanemonen und Männer mit Turbanen. Es gibt Applaus und nur einen Protest.

Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht beim Nachholtermin für ihren Vortrag zu Zweigeschlechtlichkeit an der HU am 14. Juli 2022.
Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht beim Nachholtermin für ihren Vortrag zu Zweigeschlechtlichkeit an der HU am 14. Juli 2022.Benjamin Pritzkuleit

Vor dem Gebäude der Humboldt-Universität (HU) an der Dorotheenstraße 24 in Berlin-Mitte steht am Donnerstagnachmittag ein großer Polizeiwagen. Ob sie wegen des Biologie-Vortrags hier sind? „Wir sind hier, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen“, sagt einer der Beamten.

An der Eingangstür hängt ein Zettel, der auf den Vortag der HU-Doktorandin im Bereich Biologie hinweist: Marie-Luise Vollbrecht wird im Reuter-Saal im 3. Stock über „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“, sprechen. Es ist der Vortrag, der einen ziemlichen Wirbel verursacht hat, nachdem er im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften an der HU am 2. Juli gehalten werden sollte und dann von der Universität abgesagt worden ist. Die Universität sorgte sich um die Sicherheit, weil der Arbeitskreis kritischer Jurist:innen zu Gegenprotesten vor dem Hauptgebäude der HU aufgerufen hatte, wo Marie-Luise Vollbrecht sprechen sollte.  Die „Behauptung, es gebe nur zwei Geschlechter“, schrieb der Arbeitskreis in der Pressemitteilung auf seiner Webseite, sei „nicht nur unwissenschaftlich, sondern menschenverachtend und queer- und trans*feindlich!“ Vollbrecht hatte dem Vernehmen nach Unterstützer mobilisiert.

Am Donnerstag hat die Universität Vorkehrungen getroffen, sie hat Sicherheitspersonal angeheuert, das die Taschen kontrolliert, nur Angemeldete dürfen hinein. Im Foyer wird kontrolliert, ob ein Name auf einer Liste steht, und dann noch einmal im 3. Stock.

Im Foyer steht eine junge Frau mit Blumen, sie sind noch ganz in Papier eingehüllt. Julia Beck sagt, sie sei hier, um Marie-Luise Vollbrecht zu unterstützen. Sie kenne sie flüchtig von ein paar Protestveranstaltungen von Sisters Berlin gegen Menschenhandel und Prostitution. „Woman/ noun/adult human female“ steht auf ihrem schwarzen T-Shirt. „Frau/Substantiv/erwachsene weibliche Person“. Später setzt sich im Hörsaal in die erste Reihe.

HU-Historikerin zu Vollbrechts Veranstaltung: „Ich bin fassunglos“

Marie-Luise Vollbrecht ist schon da, dabei sind es noch 30 Minuten, bis der Vortrag beginnt. Hinter ihr an der großen Diawand das Foto einer Seeanemone, durch die ein hübscher orangefarbener Korallenfisch schwimmt. Fragen von Journalisten möchte sie nicht beantworten. Auch werde es keine Fragerunde nach ihrem Vortrag geben, sie wolle später um 19.30 Uhr auf demselben Youtube-Kanal Fragen beantworten, auf dem auch ihr abgesagter Vortrag gezeigt worden war.

„Ich bin fassungslos“, sagte Gabriele Metzler. Sie ist Historikerin mit einer Professur an der HU. „Dass man nach einem Vortrag keine Fragen beantwortet – das ist nicht Wissenschaft, das ist nicht Universität.“ Sie spricht laut. Alles sollen es hören.

Viele hier im Saal haben damit offenbar kein Problem. „Ich bin Biologe und finde es sehr richtig, was Frau Vollbrecht zu sagen hat“, sagt ein Mann in der fünften Reihe. Er stellt sich als Carsten Grötzinger vor, 58 Jahre alt, er habe auch einmal an der HU studiert und arbeite jetzt als Tumorforscher an der Charité. Ein junger Mann zwei Reihen hinter ihm, mit Maske und Dutt, sagt, er wolle hier die Redefreiheit verteidigen. Er ist 28, arbeitet an einer Promotion im Fach Politik. „Es geht nicht, dass eine kleine radikale Minderheit den Diskurs bestimmt“, sagt er.  Ganz hinten sitzen drei junge Männer Anfang 20, zwei studieren Informatik an der Technischen Universität (TU) in Berlin, der dritte Medizin in Halle. „Auch bei uns wird mit Gender genervt“, sagt einer von der TU. Von dem „Skandälchen“ an der HU habe er auf Twitter erfahren, sagt sein Kommilitone.

Bevor Marie-Luise Vollbrecht anfängt zu sprechen, gibt es schon Applaus. Vom Arbeitskreis kritischer Jurist:innen ist keiner da. Vollbrecht erklärt dann noch, warum sie an der Podiumsdiskussion um 19 Uhr nicht teilnimmt, bei der über den Vorfall und Wissenschaftsfreiheit gesprochen werden soll. Der Titel: „Meinung, Freiheit, Wissenschaft – der Umgang mit gesellschaftlichen Kontroversen an Universitäten“. Zum einen müsse ihr Vortrag nicht kontextualisiert werden, sagt Vollbrecht. Auch seien ihre Person und sonstigen Meinungsäußerungen irrelevant für das Thema.  Sie beklagt die „unausgewogene Zusammensetzung des Podiums“, an dem neben Vertretern der juristischen Fakultät und dem Institut für Geschichtswissenschaften auch das Schwule Museum und die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität als Diskutierende geladen sind, zudem Vollbrechts Doktorvater  und die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Besonders überzeugend klingen ihre Gründe nicht.  – „Ich bin froh, wenn ich vor Aufregung nicht umkippe“, hört man sie noch sagen. Das kann man schon eher verstehen.

Ihren Vortrag beginnt sie mit der humorigen Bemerkung: „Es freut mich, dass Deutschland jetzt ein größeres Verständnis für Seeanemonen hat.“ Tatsächlich dreht sich ganz viel um diese Wesen, die sich sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich vermehren können und Forschungsgegenstand der Meeresbiologin Vollbrecht sind. Karteikarte um Karteikarte, Folie um Folie kommt sie voran, spricht von den kurzfristigen und langfristigen Vorteilen der sexuellen Fortpflanzung, von primären Geschlechtsorganen und der Notwendigkeit, seine Gene zu teilen.

Es sind biologische Basics, von denen hier die Rede ist. Nichts Aufregendes. Eine Folie reizt mit dem Wort Gender, den Marie-Luise Vollbrecht als Begriff für die soziale Geschlechterrolle definiert. Neben dem Wort und seiner Erklärung ein Schwarz-Weiß-Foto von lauter Männern mit weißen Turbanen, Arm in Arm wie eine Fußballmannschaft. Dann erzählt sie von einem albanischen Dorf, in dem in Familien ohne männliche Nachkommen ein Mädchen die Männerrolle übernimmt, damit es erben kann. Ein Beispiel für einen extremen und erzwungenen Tausch von Geschlechterrollen? Über Geschlechtsidentität kein Wort. Und die Geschichte aus den albanischen Bergen berührt so merkwürdig wie die vielen Turbane. Aber nachfragen kann man ja nicht. „So, das war’s“, sagt sie.