Spiegel und Macron: Wer an der Macht bleiben will, muss gut lügen

Man kommt als Lügner an die Macht, aber dann wird Glaubwürdigkeit verlangt, sagt der Philosoph Raphaël Enthoven. So läuft das in der Demokratie.

Der französische Präsident Macron im Wahlkampf
Der französische Präsident Macron im WahlkampfAFP

Man könne keine politischen Wahlen gewinnen, sagte der französische Philosoph Raphaël Enthoven soeben in der Tageszeitung Die Welt, ohne ein talentierter Lügner zu sein. Er bezog sich dabei auf den ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen. Enthoven, der unter anderem das Arte-Magazin „Philosophie“ moderiert, in dem es immer wieder um Begriffe wie Macht und Verantwortung geht, aber auch um den Körper und menschliche Stimmungen, sieht das Drama der Politik insbesondere darin, dass die Eigenschaften, die für die Erlangung der Macht erforderlich sind, das Gegenteil dessen darstellen, was zu deren Ausübung erforderlich ist.

Man kommt als Lügner an die Macht, aber anschließend wird vom Amtsinhaber verlangt, besonders authentisch und vertrauenswürdig zu sein. Raphaël Enthoven nimmt es mit dem von ihm aufgestellten Paradox nicht so genau. Präsident Emmanuel Macron jedenfalls bescheinigt er eine gewisse Größe. Er sei als Verführer gewählt worden, dann aber habe er auch die zur Amtsausführung notwendigen Eigenschaften unter Beweis gestellt.

Der soeben aus dem Amt geschiedenen Familienministerin Anne Spiegel hält man Lügen im Amt vor, und schließlich verhalf ihr ein bis zur Verzweiflung ausgereiztes Maß an Authentizität nicht zum Verbleib. Um politischen Sachverstand und Kompetenz ging es in der sich quälend lang hinziehenden Affäre so gut wie gar nicht, in der Kritik stand denn auch nicht die Bundesfamilienministerin, sondern das mangelnde Krisenmanagement als rheinland-pfälzische Umweltministerin. Das Amt hatte sie kurz vor der verhängnisvollen Naturkatastrophe zusätzlich zu ihren Aufgaben als Familienministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin in dem Bundesland übernommen.

Am Ende haben es alle gewusst

Spiegels politisches Schicksal aber war besiegelt, als es ihr nicht mehr gelang, das notwendige Talent zur Lüge mit sicherem Gespür für den Machterhalt zusammenzubringen. Also musste sie unter lärmender Empörung weichen. Skandal, Versagen, Demaskierung. Am Ende haben es alle gewusst – politischer Alltag eben. Und das ist bereits die gute Nachricht zur Demission der Anne Spiegel. Das Meinungsspektakel war voll auf Touren gekommen, inklusive pop- und medientheoretischer Erklärungsversuche. Nicht schlecht für eine Gesellschaft, in der gerade intensiv über die Frage nach Krieg und die Hoffnung auf Nachkriegspolitik verhandelt wird. Während andernorts Machtstarre herrscht, gelingt der Austausch des Führungspersonals bei uns reibungslos.