Verhaltensfrage: Darf ich einem Fünfzigjährigen einen Sitzplatz anbieten?
Wann wird aus Rücksicht Übergriffigkeit? Das Bedürfnis, zu helfen, steht der Verletzlichkeit innerer Jünglinge gegenüber. Mögen sie das Gleichgewicht halten!

Es ist bald an der Zeit, also für den Autor, dass er sich mit dem Thema Altersdiskriminierung auseinandersetzt. Schon dieser erste Satz des Artikels verrät den gesellschaftlichen Grundirrtum, nämlich dass ein Thema nur für die interessant sei, die davon betroffen sind.
Die zivilisatorische Leistung einer demokratischen Gesellschaft bestünde doch genau darin, auch als Mitglied der Mehrheit Empathie und Interesse für diejenigen zu zeigen, die ausgegrenzt werden.
Diskriminierung statt echte Rücksicht
Im Fall des Ageismus, wie die Jugend von heute die Altersdiskriminierung nennt, kommt hinzu, dass jeder, sofern er lange genug lebt, irgendwann zu jener Kohorte gehört, die von der nachrückenden Generation zum Ziel von Abwertung und Niedertracht wird. Wobei diese Niedertracht verschiedene Formen annehmen kann und sich manchmal auch als Wohlverhalten tarnt.
Das aber wird in keiner anderen Absicht an den Tag gelegt, als dem Adressaten mit der vorgespielten Rücksicht vor der versammelten Öffentlichkeit simpelste Fähigkeiten abzusprechen: zu stehen, Taschen zu tragen, die Verkehrslage einzuschätzen. Diese Rücksicht ist ein Kunstgriff, mit dem sich der Jungspund nicht nur als moralisch überlegen inszeniert, sondern jeden attraktiv gereiften Silberrückenkonkurrenten aus dem Rennen wirft.
Bevor zum Beispiel jemand einem in die Bahn einsteigenden Mitpassagier vorschnell mit den Worten „Wollen Sie sich vielleicht hinsetzen?“ den Platz anbietet, möge er doch kurz innehalten und sich fragen, ob er mit seinem Angebot nicht übergriffig handelt und sich allein vom Äußeren seines Gegenübers leiten lässt und dieses darauf reduziert.Es könnte doch sein, dass der Eingestiegene den klapprigen Eindruck, den er auf andere macht, innerlich gar nicht teilt, sondern dass er dort innen noch immer der fitte Jungerwachsene ist, der gerade mit dem Rauchen aufgehört hat und nun die Abenteuer des Lebens anzugehen gedenkt.
Den eigenen Stolz abdämpfen
Man ist so alt, wie man sich fühlt, heißt es, nicht wie man aussieht oder wie man auf Leute wirkt, die für das angemessene Urteil noch gar nicht die nötige Lebenserfahrung angesammelt haben. Selbst wenn man vielleicht zwischendurch verdrängt hat, dass sich das Kreuz versteift hat und die künstliche Hüfte klappert, was man wegen des nachlassenden Gehörs ohnehin nicht wahrnimmt, also selbst wenn man für Sekundenbruchteile vergessen hat, dass man den besten Teil des Lebens hinter sich hat und es bald an der Zeit ist, in die Grube zu fahren – möchte man in jenen seltenen und gesegneten Momenten der Verdrängung mit der Nase auf die Wahrheit gestoßen werden?
Um das, falls es noch nicht geschehen ist, noch einmal deutlich klarzumachen: Der Autor antizipiert hier nur und schleicht sich an die Betroffenenperspektive heran. Noch ist er in der Lage, seine langsam ermüdenden Glieder für den Auftritt in der Öffentlichkeit zu straffen. Seine Graubärtigkeit, vor der er selbst hin und wieder erschrickt, scheint als Signal des Verfalls noch nicht durchzuschlagen und Hilfsangebote zu evozieren.
Vielleicht ist das der richtige Zeitpunkt, um an seiner inneren Haltung zu arbeiten und den Stolz schon mal ein bisschen abzudämpfen. Warum der amtierenden Jugend nicht das plüschige Gefühl gönnen, das mit ihrer vermeintlichen moralischen Überlegenheit einhergeht? Lässt sich das nicht in Kauf nehmen, wenn man einen Sitzplatz dafür bekommt, sich nicht selbst, sondern nur das Smartphone festhalten muss und in Ruhe durch die Wanderschuhangebote scrollen kann?