Überschießende Verkehrsregelung: „Das ist eine Infantilisierung der Menschen“
Beispiel Friedrichstraße: Wenn eine Regel sinnlos erscheint, setzt man sich darüber hinweg, sagt der Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier.

Politik und Kommunen träfen bei der Gestaltung des Verkehrsraums oft laienhafte Entscheidungen, mit denen sie sich über wissenschaftliche Erkenntnisse hinwegsetzen, sagt der Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier.
Die Verkehrspsychologie sage seit Langem, dass die Verbesserung der Straßengestaltung allen zugutekommen muss.
Die Berliner Friedrichstraße ist wieder für den Autoverkehr gesperrt worden, aber nicht alle Autofahrer halten sich daran. Sie fahren einfach trotzdem durch. So etwas Ähnliches beobachte ich in meiner Straße in Neukölln, die seit ein paar Monaten Einbahnstraße ist. Auch das wird von einigen Autofahrern ignoriert. Herr Fastenmeier, können Sie das erklären?
Für ein solches Verhalten gibt es in der Verkehrspsychologie den Begriff Reaktanz. Zu Reaktanz kommt es unter anderem dann, wenn die objektiven Gegebenheiten eines Verkehrsraums dem widersprechen, wie Verkehrsteilnehmer ihn subjektiv wahrnehmen. Ein typisches Beispiel: Wenn in einer breiten Straße, die für 50 oder 60 km/h ausgelegt ist, plötzlich Tempo 30 vorgeschrieben wird, halten sich viele Autofahrer nicht daran. Oder es wird die Sinnhaftigkeit einer Regel nicht akzeptiert.
Sie meinen, ein Autofahrer sieht die Friedrichstraße, durch die man ja mit dem Auto fahren könnte, versteht nicht, warum er das nicht tun soll, und tut es dann einfach trotzdem?
Ja. Denn es passt in seinen Augen einfach nicht zusammen. Wenn der Sinn einer Regel nicht erkannt wird, setzt man sich darüber hinweg.
Was bedeutet das für diejenigen, die solche Regeln erlassen?
Es werden oft vielleicht gut gemeinte, aber doch laienhafte Entscheidungen von Politik und Kommunen getroffen, die sich über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verkehrsraumgestaltung hinwegsetzen. Das bedeutet umgekehrt nicht, dass man nur Regeln erlassen darf, die von den Verkehrsteilnehmern sofort als sinnvoll erkannt werden. Man kann sie gegebenenfalls erziehen, indem man die Sinnhaftigkeit einer Regel erklärt.

Fastenmeier ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie.
Es gibt aber ja unterschiedliche Verkehrsteilnehmer, die Regeln unterschiedlich beurteilen. Ein Fahrradfahrer findet die autofreie Friedrichstraße vielleicht gut, oder? In Berlin sind in der Corona-Zeit Pop-up-Radwege entstanden, durch die eine Autospur auf der Straße weggefallen ist. Auch das wird sicher unterschiedlich beurteilt. Autofahrer parken immer wieder auf dem Radweg. Ist das auch Reaktanz?
Es ist auf jeden Fall ein Ausdruck des Kampfs um den knappen Verkehrsraum. Es gibt sicher auch schwarze Schafe, die ihre Interessen rücksichtslos gegen andere durchsetzen. Das hat dann nichts mit Reaktanz zu tun, sondern mit Aggressivität. Aber es ist eigentlich auch eine alte Erkenntnis der Verkehrspsychologie, dass man motorisierte und nicht motorisierte Verkehrsströme im Sinne der Verkehrssicherheit trennt. Nur wird genau das Umgekehrte gemacht, wenn auf viel befahrenen Straßen quasi mit Gewalt ein Radweg eingeführt wird, obwohl es vielleicht bessere Möglichkeiten gäbe.
Meinen Sie mit Trennen eine Barriere?
Eher ein unabhängiges Netz von Rad- oder Fußwegen. Das ist natürlich schwierig, denn die Städte sind chaotisch gewachsen und die Verkehrsstärken haben sich unterschiedlich entwickelt. Es gibt wirtschaftliche und politische Gründe, warum motorisierter Verkehr überhaupt existiert, er ist für den Transport von Gütern und Menschen geschaffen worden. In Bezug auf Auto- und Radfahrer wird jedoch derzeit stark moralisierend argumentiert. Dass der Autofahrer der Böse und der Radfahrer der Gute ist – so ist es ja nicht. Die Verkehrspsychologie sagt seit Langem, dass die Verbesserung von Straßengestaltung allen zugutekommen muss.
Ein eigenes Straßennetz für den Radverkehr zu errichten, das geht doch aber nicht in einer gewachsenen Stadt, in der überall Häuser stehen.
Es ist jedenfalls nicht damit getan, dass man eine Radspur auf eine Straße malt. Das ist finanziell am günstigsten, aber es wäre wichtig, dass die Kommunen das Kostenargument überdenken. Bei Gehwegen oder Radverkehrsanlagen muss man Geld in die Hand nehmen.
Sind alle Menschen gleich anfällig für Reaktanz?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Tendenziell ist es so, dass ältere Menschen regelangepasster sind. Es gibt auch keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, nur sind Männer risikobereiter.
Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen man ohne Gurt fuhr und 1,5 Promille Blutalkohol erlaubt waren. Ist die Freiheit im Straßenverkehr weniger geworden oder hat sie bloß ihren Charakter verändert?
Ich sehe schon überschießende Regelungsanstrengungen. Überall scheinen Gefahren zu lauern, die bekämpft werden müssen. Das ist eine Infantilisierung der Menschen. Denn in einem Großsystem wie dem Verkehr gibt es kein Nullrisiko. Jeder setzt sich durch seine Verkehrsteilnahme Gefahren aus, es wird dadurch kinetische Energie freigesetzt, die sich nicht auf null herunterregeln lässt.
Die Regeln im Straßenverkehr werden aber offenbar sehr schnell als freiheitseinschränkend empfunden, oder?
Staatliche und kommunale Gesetze und Verordnungen regulieren die Interaktionen zwischen den Verkehrsteilnehmern und der Verkehrsumgebung, um den Verkehr leistungsfähig, sicher und reibungslos zu gestalten. Manche Verkehrsregeln können sicher auch als Einschränkung von Freiheit verstanden werden, bei denen sich die Menschen fragen, ob sie sinnvoll sind und ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechen.