Warum viele Deutsche Russlandversteher sind und die Russen im Krieg still halten

Die Historikerin Botakoz Kassymbekova hat eine höchst erhellende Perspektive auf Deutschland sowie auf Russland und dessen imperiale und rassistische Natur.

Die Historikerin Botakoz Kassymbekova.
Die Historikerin Botakoz Kassymbekova.Sabine Gudath

Den Deutschen werden wir es zeigen, sei der Tenor in Russland. So hat es die aus Kasachstan stammende Historikerin Botakoz Kassymbekova bei ihrem letzten Besuch erlebt. „Auf nach Berlin“ heißt es auf Auto-Aufklebern. Und die Deutschen hätten den Zweiten Weltkrieg nicht ordentlich aufgearbeitet, daher ihr fortwährendes Bemühen, Russland zu verstehen. 

Frau Kassymbekova, Sie beschäftigen sich mit dem Thema Imperialismus im Zarenreich und in der Sowjetunion und ziehen eine Verbindung zur Gegenwart. Worin besteht diese?

Die Besiedlung eroberter Gebiete mit Russen, um das Gebiet als russisch zu deklarieren, ist alte russische Kolonialpolitik, die schon im 16. Jahrhundert praktiziert wurde. Auch wurde mit Hilfe von Sprache und Kultur russifiziert, um eroberte Territorien als russisch zu beanspruchen. Puschkin wurde im 19. Jahrhundert ins Exil auf die Krim geschickt, und er verankerte die Halbinsel in der russischen Imagination literarisch als russischen Ort. Als die Sowjetunion zerfiel, erklärte Michail Gorbatschow 1989 in einem persönlichen Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush, dass die baltischen Staaten sich nicht von der Sowjetunion trennen könnten, da in Estland und Lettland zu 50 Prozent Russen lebten. Er sprach auch von Russen in der Ukraine und Kasachstan und nannte diese Länder russische Minderheitenregionen, nicht einmal Republiken.

Und Putin macht es genauso?

Putin greift auf diese alte russische Strategie zurück: Besiedlung durch Russen für territoriale Kontrolle und Anspruch auf das Territorium derjenigen Nachbarländer, die sich Russland politisch nicht unterwerfen. Nach altem Muster argumentiert er mit der russischen Sprache und Bevölkerung. Unter Putin hat man seit der Annexion der Krim 2014 Hunderttausende Russen dort angesiedelt, um jetzt sagen zu können, die Krim sei russisch. Dabei hat die Regierung bei der Mobilisierung im Krieg gegen die Ukraine auf der Krim hauptsächlich Krimtataren mobilisiert, um deren Zahl zu verkleinern. Diese sind wegen des Genozids im Jahr 1944, als Stalin die ganze krimtatarische und griechische Bevölkerung nach Zentralasien deportieren ließ, ohnehin eine kleine Minderheit. Im aktuellen Krieg wird die ethnische Säuberung durch die überproportionale Mobilisierung von Vertretern nationaler Minderheiten weitergeführt. Die Ansiedlung von Russen und ethnische Säuberungen innerhalb der indigenen Bevölkerung haben eine lange Geschichte.

Aber der Kommunismus sollte doch jede Form der Unterdrückung beenden, auch koloniale Unterdrückung.

Darauf haben viele gehofft. Aber auch die Sowjetunion war ein Imperium. Vielen Historikern galt sie allerdings als eine Art gutes Imperium. Vor allem Wissenschaftlern, denen es darum ging, den Kapitalismus zu kritisieren. Sie stellten die Sowjetunion als antikoloniale Macht dar. Dabei blendeten sie vieles aus. Gewalt zum Beispiel.

Gilt das auch für die westliche akademische Welt?

Ja, viele haben das Imperiale gar nicht bemerkt, denn die meisten Wissenschaftler waren vor allem in Moskau und höchstens noch Leningrad/Petersburg unterwegs, schon weil dort die Archive konzentriert sind. Wenn sie in Georgien oder Zentralasien geforscht haben, lernten sie in den seltensten Fällen die lokalen Sprachen und reproduzierten stattdessen russische Narrative. Die Unterdrückung von Kulturen wurde ausgeblendet oder in eine Fortschrittserzählung verwandelt. Und wenn man schaut, wer aus der ehemaligen Sowjetunion an westlichen Universitäten russische Geschichte unterrichtet und darüber publiziert, dann sind das meistens Menschen aus Moskau und Petersburg. Ukrainische, kasachische oder tschetschenische Stimmen dagegen werden kaum gehört. Russische Wissenschaftler gelten oft als Experten für ganz Osteuropa und sogar für Zentralasien und den Kaukasus, sie werden als solche eingeladen und gehört, dabei haben sie einen kolonialen Blick auf diese Regionen. Wissenschaftler von dort werden dagegen nie eingeladen, um über Russland zu sprechen, obwohl sie Russland aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Die akademische Welt reproduziert oft koloniale Hierarchien.

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privat
Zur Person
Botakoz Kassymbekova, gebürtige Kasachin, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert, an der University of Essex und der American University Central Asia studiert. Sie forscht zur Sowjetisierung Zentralasiens, zum russischen Kolonialismus, dem Alltag in der Sowjetunion, dem Stalinismus und dessen Aufarbeitung.

Als die Sowjetunion zerfiel und viele Sowjetrepubliken unabhängig werden wollten, sprach man nicht von Dekolonisierung, sondern von Nationalismus, oder?

Es ist ein imperiales Standardnarrativ, die nach Unabhängigkeit Strebenden als gefährliche Nationalisten abzustempeln. Über Russland ist dieses Narrativ in den Westen gekommen. Genau wie die Erzählung, es handele sich bei den Tschetschenen um islamistische Terroristen und Banditen. In Deutschland hat man die eigene Schuld am Zweiten Weltkrieg fokussiert auf die russische Bevölkerung abgearbeitet, obwohl im Verhältnis viel mehr Tod, Leid und Zerstörung auf den Gebieten der Ukraine und von Belarus stattgefunden haben. Dekolonisierung heißt auch, dass man darauf achten muss, mit wem man spricht. Wenn das nur die Menschen aus dem imperialen Zentrum sind, dann wird man vieles nicht verstehen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland oft die Langmut gegenüber Russland begründet. Der Bundespräsident hat etwa im Zusammenhang mit der Kritik am Bau von Nord Stream 2 gesagt, Deutschland müsse die historische Dimension im Blick behalten, und hat an den Überfall von Nazideutschland auf die Sowjetunion erinnert.

Ich denke, das hat mit nicht erfolgter oder schiefgelaufener Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs zu tun. Die Sowjetunion war damals nicht nur Opfer, sondern auch kolonialer Angreifer. Sie hat in Absprache mit Hitlerdeutschland Polen angegriffen und das mit einer gemeinsamen Militärparade gefeiert, sie hat das Baltikum besetzt und zuvor Finnland angegriffen. Dass vor allem die russischen Soldaten gelitten haben, ist auch falsch. Während des Krieges hat Moskau völkermörderische Gewalt ausgeübt: zum Beispiel gegen Tschetschenien im Februar 1944, als die ganze Bevölkerung nach Zentralasien deportiert wurde. Im Februar in der extrem kalten kasachischen Steppe ohne Versorgung und Unterkunft ausgesetzt zu werden, bedeutete für viele den sicheren Tod. Die Hälfte der Menschen sind gestorben. Es gibt Nachweise dafür, dass die Bewohner einiger abgeschiedener Dörfer in den Bergen – Kinder, Frauen und ältere Männer – in eine große Scheune gesperrt und lebend verbrannt wurden, da der Deportationsplan sonst nicht erfüllt worden wäre.

Es wurden damals auch andere Nationalitäten deportiert, oder?

Das waren die Wolgadeutschen, die Krimtataren, Inguschen, Karatschaier, Kalmücken und Balkaren. Soldaten aus Zentralasien wurden ohne jegliche Vorbereitung in den Krieg geschickt. Moskau hatte Angst, Muslimen Waffen in die Hand zu geben, Angst vor einem Aufstand. Sie wurden als Kanonenfutter benutzt. Diese Aufarbeitung muss stattfinden, und zwar nicht, um festzustellen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Es geht darum zu verstehen, wie Diktatur und Kolonialismus funktionieren – und wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Nur dann ist man auf eine gerechtere und auch bessere Zukunft vorbereitet.

Russland ist in vielen Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten, immer noch mächtig. Hat überhaupt eine Dekolonisierung stattgefunden?

Nur teilweise. In Kasachstan und Kirgistan zum Beispiel kontrolliert die russische Botschaft regelmäßig die Schulbücher und schaut, wie Russland und die Sowjetunion dargestellt werden. Wenn den Mitarbeitern etwas nicht passt, schreiben sie dem Bildungsministerium und drohen mit Maßnahmen, wenn die Geschichtsschreibung nicht an ihre Vorstellungen angepasst wird.

Oha!

Das ist neokoloniales, neoimperiales Verhalten. Sie schikanieren uns weiter. Belarus und Kasachstan machen sich in politischer Hinsicht extrem von Russland abhängig. Aber die Ukraine hat beschlossen: Russland ist nicht unser politisches Zentrum. Wir treffen selbst unsere Entscheidungen. Und das duldet Moskau nicht. Heute unterstützen die meisten Kasachen die Ukrainer. Das Verständnis, dass wir uns von Russland kulturell, politisch, sprachlich trennen müssen, ist in der Bevölkerung sehr stark ausgeprägt. Kasachen waren eine Minderheit im sowjetischen Kasachstan – das Resultat der künstlichen Hungersnot in den 1930er-Jahren, bei der circa vierzig Prozent der Bevölkerung umkamen, und der Besiedlung durch Russen, der Deportation vieler Völker und der Russifizierungspolitik – deswegen waren die meisten Kasachen russischsprachig. Heute lernen viele Kasachisch, auch Kasachen russischer und deutscher Abstammung, um auch eine sprachliche Grenze zwischen Kasachstan und Russland zu ziehen.

Wie wirkt der Imperialismus im heutigen Russland fort?

Das sowjetische Narrativ wurde wiederbelebt. Selbst Kinder tragen am 9. Mai, dem Tag, an dem Russland den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland feiert, Uniformen der stalinistischen Geheimpolizei. Der Stalinismus wird verherrlicht, statt ihn aufzuarbeiten, vor allem in den letzten Jahren. Ich habe bei meinem letzten Besuch in Russland 2021 an vielen Autos Aufkleber gesehen, auf denen stand „Auf nach Berlin“, wie damals im Zweiten Weltkrieg. Der Tenor: Wir werden es den Deutschen wieder zeigen. Das hat auch breite Bevölkerungsgruppen erreicht: Die Deutschen wollen uns Böses. Das imperiale russische Narrativ lautet nicht: Wir greifen nicht an, sondern: Wir müssen uns verteidigen.

Werden deshalb die Ukrainer als Nazis dargestellt?

So kann man der russischen Bevölkerung den Angriffskrieg als Verteidigung verkaufen. Hier wird auf den Zweiten Weltkrieg angespielt, weil er in Russland als heilig und der Tod im Zweiten Weltkrieg als würdig gelten. Die Russen haben nicht nur den Deutschen gegenüber den Mythos des guten, fast heiligen russischen Soldaten produziert. Sie glauben selbst an diesen Mythos, und es ist ein gesellschaftliches Tabu, die russische Armee zu kritisieren. Aber die russische Armee ist da, um andere Länder anzugreifen und Zivilisten, unter anderem Kinder und Schwangere, zu vergewaltigen und zu töten.

Zur Zarenzeit war es der orthodoxe Glaube, mit dem die Kolonisierung gerechtfertigt wurde, zu Zeiten der Sowjetunion der Kommunismus, was ist es jetzt?

Russkij mir. Die russische Welt. Wobei „mir“ auch Frieden bedeutet. Und Kosmos. Die Werte der russischen Welt müssen verteidigt werden – etwa gegen Gayropa, wie Europa oft genannt wird, gegen die westeuropäische Dekadenz. Meine letzten Russlandreisen haben mich sehr bedrückt, dieser Stolz auf das Sowjetische. Viele wollten nicht mit mir sprechen, weil sie mich als ausländische Agentin oder gar als Verräterin ansahen. Weil ich aus Kasachstan komme und eigentlich zur russischen Welt gehören sollte.

Warum ist die Unterstützung der Russen für den Krieg gegen die Ukraine so groß? 70 Prozent befürworten ihn laut Levada-Zentrum, dem einzigen unabhängigen lokalen  Meinungsforschungsinstitut. Wobei man sich fragen muss, wie man in einer Diktatur unabhängig sein kann.

Ich vertraue dem Levada-Zentrum. Die Zustimmung ist so hoch, weil viele Menschen in Russland tatsächlich denken, dass es die Nato und die USA sind, die gegen Russland Krieg führen. Gestern habe ich mit meiner Schwester über unsere ehemaligen russischen Klassenkameraden gesprochen, die weiterhin unbesorgt Urlaubsreisen machen, nach Thailand, nach Europa, in die Türkei, und nicht an die Ukraine denken. Eine hat meiner Schwester erklärt: Das ist nicht unser Krieg, es ist der Krieg, den die USA führen. Sie denken, dass Russland die Ukraine vor dem Westen verteidigt und zurück zu Mutter Russland holt.

Könnte es auch daran liegen, dass die russische Regierung die Medien kontrolliert?

Nicht ganz. So präsentieren es viele russische Intellektuelle. Aber die Wahrheit ist, dass auch, als es noch kritische Medien in Russland gab, die russische Bevölkerung die Angriffskriege gegen Tschetschenien, Georgien, die Krim bejubelt hat und kaum Probleme mit den Vernichtungstaktiken in Syrien hatte. Den Propaganda-Medien wird geglaubt, weil es in Russland nie eine Aufarbeitung des eigenen Imperialismus gab. Die Aufarbeitung des Stalinismus produzierte ein Narrativ der eigenen Opferschaft. Dabei wurden der russische Kolonialismus und Rassismus nie angesprochen. Zum Beispiel gab es keine öffentliche Auseinandersetzung mit Alexander Solschenizyns konservativem russischen Imperialismus. Heute werden von vielen auch Politiker wie Nawalny bejubelt, obwohl er sich von seinen rechtsextremen Aussagen und Aktivitäten sowie der imperialen Haltung gegenüber der Ukraine nie distanziert hat.

Also auch die Opposition hat die imperiale Haltung verinnerlicht?

Die russische Gesellschaft ist eine Loyalitätsgesellschaft. Der Bürger hat der Gesellschaft und dem Vaterland gegenüber loyal zu sein. Deshalb ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass Nawalny und andere russische Oppositionelle ins Gefängnis gehen. Sie müssen in Russland sein, ihre gesellschaftliche Pflicht dem Volk gegenüber erfüllen und bereit sein, sich als Märtyrer für Russland zu opfern. Nur dann wird man in Russland als Patriot wahrgenommen. Die, die ausreisen und kritisieren, gelten als nicht patriotisch genug, sie haben das Vaterland verlassen und verraten.

Gibt es noch andere Gründe für die Passivität der Russen?

Zu sowjetischen Zeiten wurden die Russen zum größten und wichtigsten Volk in der Sowjetunion erklärt. Sie waren der große Bruder, der andere zivilisieren und befreien sollte. Die Russen wurden als Kulturträger und als mutige, etwas naive und edle Helden dargestellt, und die anderen als unzivilisierte, rückständige Bauern oder Nomaden. Das Resultat solcher kolonialer Narrative ist es, dass die „anderen“ dehumanisiert werden, mit Barbaren hat man kein Mitgefühl. Es ist dann einfacher, die „anderen“ zu diskriminieren und auch zu töten. Wenn sie sterben, dann sterben Barbaren, Feinde, nicht Menschen. Russen haben Schwierigkeiten, russischen Kolonialismus und Rassismus zu erkennen, weil sie die Bilder der eigenen Unschuld und Opferschaft und auch die Stereotypisierung anderer gewöhnt sind. Die sowjetische Kultur war rassistisch. Nichtrussen sollten sich für ihre Kulturen schämen und sich russifizieren, wenn sie progressiv sein wollten.

Ist das heute noch von Bedeutung?

Die kolonialen Narrative und der Glaube an das große russische Volk spielen heute im Krieg eine zentrale Rolle. Viele russische Soldaten glauben tatsächlich, sie befreien die Ukraine vom Faschismus. Der tiefe Glaube an die Großartigkeit der russischen Kultur hat die moralischen Grenzen verwischt. Es gibt natürlich auch strukturelle Komponenten. Russland ist eine Rohstoffwirtschaft, und die meisten großen Unternehmen sind mit dem Kreml verbunden. Wenn der Chef loyal zu Putin ist, müssen auch alle anderen diese Loyalität zeigen, sonst verlieren sie ihren Job. Wichtig dabei ist zu verstehen, dass diese Wirtschaftsstruktur kolonial ist und zur Passivität der russischen Bevölkerung beiträgt: Würden die Russen jetzt gegen Putin demonstrieren, würden vielleicht Teilrepubliken, die Teil von Russland sind, die Gelegenheit nutzen und ihre Unabhängigkeit verlangen. Der Reichtum Russlands beruht aber auf Rohstoffen dieser Republiken und Regionen. Jeder in Russland weiß, dass es kein russisches Gas gibt, kein russisches Öl, keine russischen Diamanten. Das alles gehört Jakutien, Tatarstan, Baschkortostan, Tschetschenien und anderen Regionen mit indigener Bevölkerung. Deshalb halten die Russen still. Damit Russland so bleibt, wie es ist.


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